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Liturgie des kalten Kriegs?

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Eine der meist genannten und zweifellos einflußreichsten Persönlichkeiten der heutigen Welt-politik ist Henry A. Kissinger. Wer ist Kissinger?

Wir kannten Werke des Historikers und Politologen der Harvard-Universität, bevor es diesem Professor vergönnt war, seine wissenschaftlich erarbeiteten Ein- und Ansichten als Berater des Präsidenten Nixon praktisch anwenden zu können. „A World Restored“ ist eines der besten Werke über Metternich und den Wiener Kongreß; 1965 folgte „The Troubled Partner-ship“, eine scharfsinnige Analyse und wohl erwogene Kritik der amerikanischen NATO-Politik.

Kissinger hatte in jungen Jahren mit seinen Eltern Deutschland verlassen müssen und in Amerika Zuflucht gefunden. Als amerikanischer Soldat kehrte er nach Deutschland zurück. Ein Vorgesetzter, der die hohe Intelligenz des jungen Mannes erkannte, ermunterte ihn zum Universitätsstudium. Seine akademische Laufbahn war erfolgreich und brachte ihn in Verbindung mit der neuen Schule der amerikanischen politischen Wissenschaft. Er wurde bereits von Kennedy gelegentlich herangezogen, hernach wurde er Berater des Gouverneurs von New York, Nelson Rocke)'eller.

Als Richard Nixon vor vier Jahren zum erstenmal für die Präsidentschaft kandidierte, ermunterten ihn seine Freunde, wie die bisherigen Präsidenten einen Intellektuellen als Berater heranzuziehen. Sie empfahlen ihm Professor Kissinger, der wie er ein Konservativer sei. Rockefeiler war bereit, ihn Nixon abzutreten; seither besteht dank Kissinger eine Querverbindung zwischen dem Präsidenten und seinem ehemaligen Rivalen in der Republikanischen Partei.

Auf den ersten Blick mag das Zweigespann Nixon-Kissinger überraschen, denn Nixon unterhielt keine Beziehungen zu den Professorenkreisen der großen amerikanischen Universitäten. Vielleicht aber haben sich diese Männer gerade deshalb gefunden, weil sie beide nach ihrer Herkunft Randfiguren der amerikanischen Gesellschaft sind: der kleinbürgerliche Advokat aus Kalifornien und der eingewanderte deutsche Jude. Sie gehören nicht zum „Establishment“ der patrizischen und reichen amerikanischen Familien, deren Söhne unter den vorangegangenen Präsidenten die Berater des Weißen Hauses stellten und das Staatsdepartment beherrschten. Dazu kommt, daß Nixon, der vor allem der Außenpolitik neue Impulse zu geben entschlossen war, in

Kissinger den historisch versierten und kenntnisreichen Mann fand, der imstande war, mit einem Stab von Sachverständigen die Grundlagen einer den veränderten Verhältnissen angemessenen Außenpolitik zu liefern.

Es wird gesagt, Nixon und Kissinger seien sich bei ihren ersten Begegnungen einig in ihrer Bewunderung für de Gaulle gewesen, dessen pragmatische und den historischen Gegebenheiten verpflichtete Auffassungen sie auf weite Strecken teilten; Kissinger bevorzuge „schwierige Verbündete“, wie de Gaulle und Tschu En-lai. In seinem unlängst erschienenen „Tagebuch“ berichtet Max Frisch von einem Lunch im Weißen Haus, zu dem ihn Kissinger im Mai 1970 geladen hat. „Er ist“, schreibt Frisch, „Mitte Vierzig, untersetzt, auf eine weltmännische Art unauffällig; Akademiker nach deutscher Tradition, auch wenn er seine Hände in die Hosentaschen steckt. Der Anruf, der ihn nochmals eine Weile aufhält, kommt von Nelson Rockefeller ... Zwei Sekretärinnen sitzen in seinem Vorzimmer und essen gerade ihre hot-dogs ... Auch hier ein Photo von Nixon, Porträt mit Widmung an Henry A. Kissinger: „grateful for ever.“ Eine Folge dieser für Nixon unentbehrlich gewordenen Zusammenarbeit war, daß die Außenpolitik nicht mehr im Staatsdepartment gemacht wurde.

In seinem Buch von 1965 über die in Verwirrung geratene Partnerschaft in der NATO beanstandet Kissinger, daß kein echtes Konsultationsverfahren zwischen den Verbündeten entstehen konnte, weil Washington mit seinen Entschlüssen seine europäischen Verbündeten vor vollendete Tatsachen zu stellen pflegte. „Die vergangenen Verwirklichungen“, sagt er, „gewährleisten nicht die

Anpassung an die neuen Verhältnisse, sie können sie sogar hemmen.“

In einer vor drei Jahren veröffentlichten Abhandlung schlug Kissinger Korrekturen an der lange Zeit ideologisch begründeten Politik Washingtons vor, die an die Stelle der „Liturgie des Kalten Krieges“ — u>ie er sich ausdrückt — zu treten hätten. Wörtlich: „Die militärische Bi-polarität hat die politische Multi-polarität nicht nur nicht verhindern können, sie hat sie ermutigt.“ Heute bestehe das Paradoxon darin, daß ihre militärische Macht die Supermächte befähigt, sich gegenseitig zu zertrümmern, aber nicht, diese Kapazität auf die Politik zu übertragen. Weiter: ,Je mehr die NATO auf dem Nuklearkrieg als der Abwehr von jeder Form des Angriffs beruhte, desto weniger glaubwürdig schien diese Garantie.“ Die kleineren Länder seien zerrissen zwischen ihrem Bedürfnis nach Schutz und ihrem Wunsch, sich der Herrschaft der Großen zu entledigen. Wenn aber Amerika bereit sei, die europäische Autonomie anzuerkennen, müsse auch Europa einen gewissen Grad von amerikanischer Autonomie anerkennen. Amerika könne auch nicht der Garant jeder nicht-kommunistischen Weltgegend sein; für kein Land, sagt Kissinger, wäre es weise, gleichzeitig an allen Stellen des Erdballs in jedem Augenblick aufzutreten.

Nixons pragmatische Art, die Beziehungen zu den anderen Mächten — insbesondere zur Sowjetunion und zu China — neu zu gestalten, stimmt mit Kissingers Ansicht überein, das Atomzeitalter zwinge zu einem gewissen Grad der Zusammenarbeit und zu einer absoluten Begrenzung von Konflikten. Die sogenannten SALT-Abkommen mit Moskau zur Begrenzung der strategischen Waffensysteme legen Zeugnis für diese Bemühungen ab. Desgleichen Nixons neue Asienpolitik, die am augenfälligsten bei der Aufnahme des Gesprächs mit Peking und den Waffenstillstandsverhandlungen in Vietnam in Erscheinung trat. In . Europa trachten die Amerikaner, sich mit Rußland zu arrangieren, was im Rahmen der europäischen Konferenz für Sicherheit und Abrüstung geschehen kann und hernach zu Verhandlungen über einen Truppenabbau in Europa führen soll. Die deutsche Ostpolitik, die Pläne für eine europäische Union und Japans Verständigung mit China müssen im Zusammenhang mit diesen Anpassungen an eine veränderte Lage verstanden werden.

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