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Lob der kleinen Festspiele

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Unlängst waren im Bregenzer-wald, in der Ortschaft Egg, Men-sohenscharen versammelt, um über die Zukunft der Religion zu diskutieren. Seit Jahren bereits werden dort oben von ein paar opferbereiten, interessierten Personen „Bregenzerwälder Kulturtage“ veranstaltet — und freilich wind dadurch nebenbei auch der Fremdenverkehr gefördert, und vielleicht wird da und dorrt auch Prestige gewonnen, doch wichtiger ist die Stoßrichtung des Versuches. Man will gemeinsam nachdenken. Das heißt: Man will gemeinsam Gedanken entwickeln, und zwar durch die Begegnung zwischen Fachleuten und den Menschen des Bregenzerwaldes. So und nur so entsteht das, was wir gemeinhin Kultur nenen: in komplizierten Prozessen der Erneuerung bestehender Erkenntnisse und Werturteile — nicht durch die Hoffart eines mörderischen Voluntarismus, sondern grüblerisch, nachdenklich, Ahnungen und Hypothesen abwägend, fragend und aus der Tiefe der eigenen Zweifel ans Licht neuer Vermutungen vorstoßend.

Diese Kulturtage im Bregenzer-walld stehen in Österreich nioht ganz allein. Während das große sommerliche Spektakel in Salzburg, in Bre-

genz, in zwei Ortschaften des Burgenlandes über die Bühnen geht, und während man in Graz damit beschäftigt ist, die Veranstaltungen des Steirischen Herbstes vorzubereiten, ereignet sich im Bregenzerwald untd in Spittal an der Drau, im steirischen Städtchen Fahring und in der burgenländischen Ortschaft Neumarkt an der Raab ebenfalls Wichtiges. Ist es vielleicht sogar wichtiger? Kultur entsteht und ereignet sich jedenfalls in der Stille: in der Einsamkeit der künstlerischen Arbeit, in der Intimität des fruchtbaren Dialoges, in der Intensität der kleinen Gespräche unter Kompetenten und Gutgesinnten. Alles übrige, alles Prächtige und Elefantenhafte, das die Menschenmassen anzieht oder die echten oder vermeintlichen

Eliten mobilisiert, gehört zu einem — nun ja, sprechen wir es aus — sekundären, auf deutsch: zweitrangigen Bereich des kulturellen Geschehens. Denn es handelt sich ja in diesen Fällen nioht um Produktion, sondern um Reproduktion, nicht um den Schöpfungsakt selbst, sondern um die Präsentation schon vorhandener, zum Teil allgemein bekannter und beliebter Kompositionen oder Theaterstücke und oft sogar um eine Vermischung dieser beiden Gattungen, nämlich um Musiktheater.

Nichts gegen Salzburg und Bregenz, gegen Forchtenstein, Mörbisch und Graz. All diese Stätten des festlichen Spieles bieten erquickende Unterhaltung und dichte Stunden des intensiveren Erlebens, sie befriedigen das Bedürfnis nach Schönheit, Erschütterung und Katharsis, sie bieten — im Falle von Graz — eine Möglichkeit, die gerade vorherrschende künstlerische Mode kennenzulernen. (Das Wort Avantgarde erscheint hier unangebracht, denn die Vorhut ist eine militärische Formation, und in der weichen, alles absorbierenden und zugleich alles relativierenden Gesellschaft, die man auch „permissiv“ nennt, muß für die neueste Mode nicht gekämpft werden. Sie wird vermarktet.) Jeden-

falls handelt es sich in Salzburg und Bregenz, in Forchtenstein, Mörbisch und Graz um Präsentationen.

Wer all diese Präsentationen irrtümlicherweise mit dem wirklichen Leben der Kultur verwechselt, begeht einen doppelten Irrtum. Erstens identifiziert er den künstlerischen Schöpfungsakt mit der für den Verkehr mit dem Publikum notwendigen Wiederholung, und zweitens glaubt er, das Prinzip der Arbeitsteilung gelte auch für die Kultur, und also müßten Künstler und Zuschauer in getrennten Gruppen einander gegenüberstehen (oder meistens gegenübersitzen).

Die Kultur aber entsteht, stellt sich selbst in Frage und beantwortet sich dann selbst dort oben, im Bregenzerwald, wo in jedem Jahr über

die brennenden Fragen der Zeit diskutiert wird, und manches Mal ohne spektakuläres Ergebnis, denn die Fragestellung allein macht betroffen und wird zur Initialzündung künftiger Überlegungen.

In Spittal an der Drau, wo die Komödianten des vitalen, originellen und um Formzucht ringenden Regisseurs Herbert Wochinz spielen, in der Nachbarschaft des Schlosses Porcia, beraten in diesem Jahr zum zweitenmal Theaterleute, Literaturhistoriker und Philologen aus fünf Ländern Europas, aber im kleinen Kreis, über die Verwandlungen der Cornmedia dell'arte im österreichischen Raum. Bereits im letzten Jahr ist das Gespräch erfreulich und fruchtbar gewesen. Da saß Pjotr Ravicz aus Paris, gefürchteter Kritiker des „Le Monde“, dann Otto F. Beer, der feine Schriftsteller, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, da war Professor Von-triede aus München anwesend und Christiane Zimmer-Hofmannsthal aus New York, der Surrealist Vintila Ivanceanu aus Bukarest und die protestantische Publizistin Heidi Dumreioher aus Wien. Wechselbeziehungen wurden beleuahtet, geheime kulturhistorische Zusammenhänge freigelegt, der Stil und die

künstlerische Manier der Komödienspieler von Schloß Porcia untersucht.

Daß nachher in einer lokalen Gazette über das Gespräch auoh Hämisches und Arrogantes zu lesen war, diente nur als Bestätigung für das humanistische . Niveau der Veranstaltung. Ohren, die offenbar nur das Brüllen gewohnt sind, haben die feinere Dialektik nicht wahrnehmen können.

Im srteirischen Städtchen Fehring werden in diesem Jahr überhaupt zum erstenmal Schriftsteller aus der Steiermark und aus Wien, aus dem Burgenland und aus Slowenien, aus Ungarn und aus Kroatien zusammentreffen, um über ein gemeinsames Vorgehen gegen den Chauvinismus zu beraten; doch werden

auch literarische Lesungen stattfinden, zum Beispiel auch in einer Fabrik. Es gibt auch eine Ausstellung in Fahring, einen Kindermalnach-mittag, einen Serenadenabend und dann, auf Schloß Stein, eine internationale Sommerakademie für Klavier. (Die FURCHE wird über die Fehringer Kulturtage berichten.)

In Neumarkt an der Raab gibt es Malerwochen mit Diskussionen über bildende Kunst, und immerhin ist der ruhelos nach Ideen suchende Kunsthistoriker Alfred Schmäller zugegen, Direktor des Museums des 20. Jahrhunderts. Und soll ich all die anderen kleineren Festspiele und Veranstaltungen aufzählen? Im kleinsten Theater Österreichs, in Grein, wind seit Jahren zur Sommerzeit trefflich Theater gespielt. Auf der Bühne hinter der prächtig ruhevollen Fassade des Stiftes Melk wagen sich die Schauspieler nach Erfahrungen mit Raimund und mit Nestroy nun an einen Text Hofrnannsthals heran, und weiter östlich, in Krems, in der Gozzo-Burg, inszeniert Hans Gratzer die Uraufführung des Stückes „Gozzo“ von Walter Hessler. Soll ich noch die vielen bemerkenswerten Veranstaltungen des Carinthisohen Sommers aufzählen? Man müßte

einmal alle diese kleineren Spiele und Abende beschreiben: das Schauspiel in Reichenau, in Stockerau oder in dem Amphitheater von Carnuntum, die Vernissagen auf Schloß Potzneusiedel, die Vorträge und Lesungen auf Schloß Walchen in Oberösterreich, wo Pauline Hanreich-Ludwig nun auoh eine eigene historische Ausstellung veranstaltet: zur Erinnerung an die Bauernkriege.

In Schwechat bei Wien hat sich geradezu Einmaliges ereignet. Das lange bestehenden Amateuniheater von Schülern und Lehrlingen, Hausfrauen und Arbeitern, Angestellten und Handwerkern tritt unter der Führung von Walter Mock nun bereits zum zweitenmal mit Nestroy-Spielen hervor. Aus der Schausipiel-

gruppe einer Pfarre ist dieses Theater hervorgegangen und nun spielt es im Hof des Schlosses Rothmühle, spielt vom 2. Juli dieses Jahres an „Lumpazivagabundus“. Vorher gibt es aber auch noch Nestroy-Gespräche, drei Tage hindurch; Teilnehmer sind Gelehrte und Regisseure aus den beiden deutschen Staaten, aus England, Italien, der Schweiz und freilich auch aus Österreich. Das alles beiginnt stilgerecht mit einem Heunigenabend, an dem Hilde Sochor manches von Ne-stroy rezitiert.

So sind die kleineren Festspiele: bescheiden, vielschichtig, farbig, manchesmal auch durchgeistigt.

Nicht den Gegensatz zwischen Groß und Klein möchte ich hervorheben, sondern den Unterschied. Ohne die großen Veranstaltungen kann die Kultur existieren. Ohne die kleinen stirbt sie ab. Denn nur in diesen kleinen Kreisen kann Neues entstehen. Hier sind die Auswirkungen der Eitelkeit auf ein Mindestmaß reduziert. Hier ist die Tren-nungslinie zwischen Konsumenten und Produzenten aufgehoben. Hier wird das Bewußtsein, das bereits an die im Fernsehen vorbeiflimmernden Schattenfiguren gewöhnt ist, an leibhaftige Menschen herangeführt — und diese persönliche Begegnung ist unerläßlich, wenn wir das Entstehen von törichten Legeraden und schwärmerischen Mythen verlhindern wollen. Hier können auch aus dem Gespräch und aus der Be-

schäftigung mit der künstlerischen Arbeit ganz bestimmte Pläne hervorgehen.

Die Salzburger Festspiele sind als Vision von Hoimannsthal und Reinhardt ebenfalls solche Gelegenheiten der abenteuerlich in die Zukunft hineinsprießenden Poesie gewesen. Heute ist Salzburg zur Festspielzeit eine einzige Maschinerie des Zaubers. In der Tiefe aber und in der Stille wirken die Kräfte, die die Kultur hervorbringen, in sehr kleinem Kreis, schöpferisch zwischen Lust und Plan schwankend. Diese sehr kleinen Festspiele und Kulturtage sind es, die in fröhlicher Armut, heiter und ungehemmt, eigenwillig und respektlos das kulturelle Geschehen der nächsten Jahre bestimmen.

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