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Lob der Sentimentalität

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Was dich durchdringt sind außer Gedanken, Überlegungen und Erinnerungen Gefühle, und sie kommen von unten, aus der Basis, aus der Erde, die du berührst, nahe der Pflanze, die in der Erde wurzelt, ohne die sie nicht leben könnte.

Du bist der Erdrinde verhaftet, hast also noch genug freien Raum. Doch sie stutzt deine Freiheit, mahnt dich an den Ursprung, macht dich schwer, oft so schwer wie einen gefüllten Sack.

Es ist Frühling und alles im Aufbruch. Da wirst du unruhig, in mehrfacher Hinsicht, und brichst auf. Früh am Morgen verläßt du das Haus, um zur Bahn zu gehen und fort zu fahren, diesmal in die Stadt. Der Weg ist eine Stunde zu Fuß, nach und nach verläßt dich die Schwere der Nacht und du gehst gut. Aber mit jedem Schritt läßt du etwas zurück, ein Gefühl, als kämst du nicht mehr zurück. Das, weil du alles bis ans Äußerste erlebst, mit allen Möglichkeiten rechnest.

In der Stadt erwartet dich niemand. Du bist frei, vogelfrei, und du versteckst dich bescheiden hinter dem Verlangen, etwas zu erleben. Zum Beispiel etwas ganz Neues.

Du betrittst den Vorraum der Bank, der als Ausstellungsraum benützt wird, gehst, nach dem ersten Eindruck von der Mitte des Raumes aus, von Bild zu Bild, suchst zu entschuldigen: ja der Farben wegen, denn die stimmen, greifen nach einem. Langsam widersetzt du dich.

Schon bevor du eintratst, sahst und hörtest du den Straßenmusikanten, der sich am Eingang postiert hatte und auf seiner Geige zu der von einem Tonband kommenden Musik spielt. Du hörst ihn, während du die Bilder betrachtest, es stellt sich keine Verbindung her zwischen diesen und der Musik, doch jetzt, während du den Raum verläßt, geradezu fluchtartig, zögerst du, denn der Geiger, der auf das intonierende Orchester einfiel, spielt das Ave Maria von Gou-nod, das lieblich innige, es überfällt dich, gerade weil es hier ist, mitten in der Stadt, in einem Basar zwischen Bank und Straße und nicht etwa bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung. • Doch ehe der Geiger dieses Ave Maria spielte, noch im Ausstellungsraum, nahmst du das Geld aus der Börse, das du in seinen Hut werfen willst. Das alles zusammen, die Unge-wöhnlichkeit des Ortes, an dem dich die Ablehnung der Bilder Uberkommt und das Lied überfällt, stellt sich die Verbindung her zwischen beiden jetzt, da du draußen bist, vermischt mit dem Lärm der Straße, dem Schleifen der Straßenbahn, und das macht dich ganz offen. Was anderes wäre es, wenn du daheim das Radio angedreht hättest.

Du bückst dich, legst das Geld in den Hut, ein paar junge Mädchen lehnen in einiger Entfernung um den Geiger an den Wänden. Du gehörst nun zu ihnen, sie beachten dich nicht, nehmen dich aber an; das spürst du, bestätigst die Zugehörigkeit, und als du dich wendest, um wegzugehen, ein wenig widerstrebend, stolperst du beinahe über das Kind, das dir, hier in der Fußgängerzone, in die Beine läuft. Du hockst dich hin, machst die Geste, als wolltest du die Arme breiten, lachst oder versuchst es, berichtigst dich aber, zurechtgewiesen von dem Kind, das dich erstaunt und ein wenig ängstlich anblickt. Schon ist die junge Mutter da, während du dich erhebst und sie anlächelst. Ja sie versteht dich, sie nickt und nimmt das Kind an der Hand, du gehst weiter, das Lächeln der jungen Frau im Auge, das sich in dir spiegelt, während du durch die Menge gehst, aus der dir die andere junge Frau entgegenkommt, ganz gerade auf dich zugeht, auf dein sich spiegelndes Lächeln und mit einem fremden Akzent in der Stimme dich um Geld bittet, weil, und es folgt die Geschichte: sie keine Arbeit hat, zwei Kinder, der Mann nicht da ist, nachkommen will. Die Menge teilt sich um euch, Gesichter ganz nahe, blicken zuerst auf die junge Ausländerin, dann auf dich, manche schmunzeln wissend, und du deutest der jungen Frau mit in den nächsten Basar zu kommen, zückst die Geldbörse, sie schaut dir genau zu und in die Börse, du gibst ihr einen Geldschein, sie dankt überschwenglich, du willst die Geldbörse schlie-

ßen, da meint sie, es befänden sich noch mehrere Geldscheine darin. Sie ist klein und schmal und dunkel, das Haar straff. Du gibst ihr einen zweiten, kleineren Schein, sagst etwas vom Einkaufen, gehst, begleitet von ihren Dankes worten hinter deinem Rücken. Du fliehst und denkst, warum gerade du, siehst sie wieder auf dich zukommen in Gedanken, gerade auf dich unter so vielen anderen, ja sie merkte es dir an, sie hätte auch auf einen anderen zugehen können, aber sie hatte dich ausersehen. Sie merkte es dir an.

Später sitzt du am Lesetisch in dem Veranstaltungskeller, hörst die anderen um dich herum reden, schaust und antwortest, wenn dich jemand anredet, dabei hast du schon längst die junge blonde Frau entdeckt, die unweit von dir sitzt und weißt, daß sie schwanger ist. Sie spricht wenig, wird wenig angesprochen, sitzt da, legt beide Hände auf den Bauch, und du bemerkst in ihrem Gesicht, daß sie alles um sich herum sieht und darauf achtet, doch mit ihren Händen hineinhört in ihren Bauch, und sie und du, ihr habt etwas gemeinsam, nämlich da zu sitzen und doch weit weg zu sein, alles zu sehen und darauf zu achten und doch nur in sich hineinzuhören.

Dann stehst du auf, gehst auf sie zu, die leeren Stühle entlang, sie sieht es, hat es gemerkt, als du aufstandest, und erwartet dich. Sie lächelt. Sie weiß, was du sagen wirst: Ich schaue Sie schon lange an, weil ich Sie anschauen muß. Ich sage noch viel mehr, sie nickt, lächelt mich an und sagt: Zwei Wochen noch.

Das ist mehr als du den ganzen Abend zu hören bekommst und viel mehr als das nebensächliche Geschwätz, mehr als maßgebliche Urteile über Dinge, die in aller Munde sind, mehr als alle Diskussionen, bei denen man sich sehr wichtig vorkommt. Es ist ein Anfang, der das Ende einschließt und dazwischen ein ganzes Leben. Es rührt dich an. Es rührt an das Ausgesetzte, Ungewisse, das der Frau und dem Kind in zwei Wochen auferlegt ist. Du kannst den Blick nicht von ihr wenden, sie lächelt zurück, und ihr wißt beide um das, was im Geschwätz und Diskutieren untergeht. Du siehst, wie glücklich sie ist.

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