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Digital In Arbeit

Lobby für die Armen

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Vereinzelt hieß es, der Entwurf des Sozialhirtenbriefes sei einseitig und marxistisch. Für den Autor dieses Beitrages eine auf Diskreditierung abzielende Feststellung.

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Vereinzelt hieß es, der Entwurf des Sozialhirtenbriefes sei einseitig und marxistisch. Für den Autor dieses Beitrages eine auf Diskreditierung abzielende Feststellung.

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Soll die Kirche sich zu wirt-schafts-, sozial- oder umweltpo-litischen Fragen äußern? Als Ökonom meine ich: Es konmit darauf an, nämlich auf den Inhalt der Frage und die Art, wie sich die Kirche äußert. Uber eine Stellungnahme zum Problem der asymmetrischen Information zwischen Aktionär und Manage-

ment würde man sich, allenfalls stimrunzelnd, wundern; geht es aber um eine Konkretisienmg dessen, was Nächstenliebe imd christlicher Umgang miteinander im wirtschaftlichen Alltag bedeuten könnten, so erwartet man selbstverständlich eine kirchliche Meinimg. Und was die Art und Weise der Äußerung betrifft: Die Kirche wäre kaum befugt, beispielsweise die 35-Stunden-Wo-che als das eindeutig beste Mittel gegen die Arbeitslosigkeit zu verkünden. Aber zur Diskussion neuer (oder alter) sozialer Probleme beharrlich aufzufordern, bohren-

zu thematisieren, zu begrüßen, und zwar auch dann, wenn man mit manchen Details des Entwurfs nicht übereinstinunt. Zustimmen würde ich beispielsweise dem Konzept, die Diskussion auf die Arbeit und die Arbeitssituation heute zu zentrieren. Zustimmen würde ich der Forderung, der Entsolidarisierung mit Armen und Arbeitslosen Einhalt zu gebieten, und stattdessen den Sozialstaat weiter zu entwickeln — denn das heißt ja nicht unbedingt, für bestehende Programme bloß mehr Geld auszugeben. Ob andererseits, wie der Textentwurf vielleicht suggeriert, die Flexibilisierung der Arbeitszeit den Lebensrhythmus der Familie unbedingt stört, scheint weniger eindeutig.

Die Diskussion um angeschnittene soziale Probleme, und die spätere Findung eines Konsenses über einzuschlagende Maßnahmen, wäre leichter, wenn die Behauptung eines Problems durch konkrete Daten und Tatsachen untermauert worden wäre. Etwa: Wie viele kinderreiche Familien müssen in Österreich unterhalb einer (irgendwo definierten) Armutsgrenze leben? Wo liegen ihre

„bestehenden Lohn-Ungerechtigkeiten“ vorstellen soll (Kapitel elf).

Solche vagen Formulierungen mögen manchen,’ denen jede kirchliche Äußerung abseits von Zölibat, Empfängnisverhütung und Liturgiereform nicht paßt, die Kritik erleichtern. Wie jedoch der Marxismus-Vorwurf, der vereinzelt geäußert wurde, mit dem Entwurfstext belegt werden soll, ist rätselhaft (FURCHE 50/1988). Weim die bloße Thematisierung eines sozialen Problems - der Entwurf stellt ohnedies bewußt mehr Fragen, als er Antworten gibt - dafür ausreicht, dann ist jeder ein Marxist, der unter geleb-tem Christentum etwas anderes als den sormtäglichen Kirchenbesuch versteht. Es ist aber ein bekanntes Spiel, einer inhaltlichen Diskussion mit sachbezogenen Argimienten dadurch auszuweichen, daß man den Gegner ideo-

logisch zu diskreditieren sucht

Der Entwurf ist nicht klassenkämpferisch, er ist überhaupt nicht besonders kämpferisch. Gemessen am Ton anderer kirchlicher Äußerungen, etwa zur Abtreibung, ist der Text ausgesprochen müde formuliert. Letztlich impliziert er, daß christliche Ethik mehr ist als das Papier, auf dem die katholische Soziallehre gedruckt wird; sie habe auch etwas mit dem wirtschaftlichen Alltag und der Verknüpfung von Arbeit und Leben zu tun. Ob der Text aus dieser etablierten Soziallehre schlüssig abgeleitet ist, ob er die einschlägigen päpstlichen Enzykliken hinreichend oft zitiert -darüber mögen die Theologieprofessoren streiten; weitaus wichtiger ist, daß der Text real vorhandene soziale Probleme aufgreift und zum Gespräch, zur Gewissensbildung aufruft.

Der Krieg sei zu wichtig, um ihn den Militärs zu überlassen, hieß es einmal sinngemäß. Ähnliches gut für die WirtschaftspoUtik. Experten können günstigenfalls Tatsachenurteile fällen in Form von Konditionalsätzen: „Wenn Maßnahme XX beschlossen wird, dann wird wahrscheinlich Folge YY resultieren.“ Das Werturteil darüber, ob YY erwünscht, ob XX beschlossen werden soll, ist nicht Sache sogenannter Experten allein.

Der Autor ist Professor am Institut~für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien.

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