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Lobrede auf Gutierrez
Lieber Gustavo! Im Jahr 1964 fand in Petropolis ein Kongreß statt, bei dem sich die lateinamerikanischen Theologen zum erstenmal getroffen haben. Einer der hervorragendsten Referenten des Kongresses war ein kaum 36j ähriger in Löwen und Lyon graduierter Theologe, der sich mit der Methode, mit der wir Theologie betreiben, auseinandersetzte. Dieser Referent warst Du, der junge Theologe Gutierrez. Schon damals hast Du darauf hingewiesen, daß Theologie die kritische Reflexion über eine vorgegebene Praxis sein muß ...
Später, im Jahr 1967, warst Du in Montreal, Kanada, um in einer Vortragsreihe über die skandalöse Armut des größten Teils der Weltbevölkerung zu referieren. Bei dieser Gelegenheit wurde die bis dahin gültige Theologie' zum erstenmal mit Deiner theologischen Ausdrucksweise konfrontiert, die inzwischen berühmt geworden ist: daß nämlich die Armen nicht nur die Adressaten der jüdisch-christlichen Botschaft sind, sondern ihre Träger und ihr aktives Subjekt... Das war der Rahmen, in dem Du das alte Problem der Beziehung zwischen Natur und Gnade (wie Du sie in Löwen und Lyon gelernt hast) in Begriffe der Beziehung zwischen der christlichen Erlösung und dem historischen Prozeß der Befreiung der unterdrückten Menschen übertragen, konkretisiert und eingeordnet hast...
Die christliche Praxis ist Dein oberstes Anliegen; die Theologie, so wichtig sie auch ist, spielt eine sekundäre Rolle. Nach diesem Grundsatz handelnd, hast Du nicht nur eine neue Art Theologie zu betreiben entwickelt, sondern auch eine neue Spiritualität, eine Spiritualität der Solidarität mit den Armen.
Deine Methodologie ist Deine Spiritualität. Mehr als alle anderen Theologien besteht das Wesen
Deiner Theologie der Befreiung in einem zutiefst evangeliumsgemäßen Mitgefühl; ein wahrhaftig theologischer Entwurf, der aus dem Kern der Frohen Botschaft entspringt...
Du warst der erste in der modernen Geschichte, der die großen Themen der christlichen Theologie wiederaufgegriffen und aktualisiert hat, angefangen bei der grundsätzlichen Option für die
Armen. Diese neue Art Theologie zu betreiben, eröffnet nicht nur ein neues Kapitel der theologischen Sichtweise, greift sie nicht nur in pastoralen und institutionellen Aspekten des christlichen und kirchlichen Lebens neu auf, sondern auch in ihren in Europa schon seit langem vergessenen dogmatischen und ethischen Gesichtspunkten.
In einem Deiner überaus aufschlußreichen Texte beschreibst Du Deine neue Sichtweise und die im Westen übliche Theologie wie folgt:
„In der Tat scheint die zeitgenössische Theologie hauptsächlich aus der Herausforderung auszugehen, die ihr der Nichtgläubige stellt. Der Nichtgläubige wendet sich an unsere religiöse Welt und verlangt von ihr eine tiefgreifende Reinigung und Erneuerung. Aber auf einem Kontinent wie Lateinamerika kommt die Herausforderung in erster Linie nicht vom Nichtgläubigen her, sondern vom Menschen überhaupt, genauer, von jenem Menschen, den das herrschende Gesellschaftssystem nicht als solchen anerkennt; vom Armen und Ausgebeuteten, dem man sein Menschsein systematisch und auf legale Weise abspricht, der aber
dennoch weiß, daß er ein Mensch ist. Dieser Nichtmensch wendet sich in erster Linie nicht an unsere religiöse Welt, sondern an unsere Welt der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Wirklichkeit und verlangt die revolutionäre Umwandlung dieser entmenschlichenden Gesellschaft von Grund auf. Die Frage lautet deshalb nicht, wie soll man in einer mündigen Welt über Gott sprechen, sondern vielmehr: Wie soll man von Gott in einer unhumanen Welt als von einem Vater sprechen? Wie soll man einem Nichtmenschen erklären, daß er ein Sohn Gottes ist?" (Concilium 1974) •
Es muß erneut betont werden, daß Deine Theologie eine suchende Theologie ist, eine Theologie, die sich in einem Entwicklungsprozeß befindet. Ihre stufenweise Radikalisierung erklärt sich durch stets neue Situationen, zu denen, abgesehen von der traditionellen Unterdrückung der lateinamerikanischen Bevölkerung, auch die Wirtschaftskrise des* Westens zur Ausbeutung in Lateinamerika beiträgt...
Ich habe Dich bei den Zusammenkünften des Conciliums öfters sagen gehört: „Ihr dürft nicht denken, daß wir unsere eigene Botschaft oder unsere eigene Privatoffenbarung in Lateinamerika verbreiten wollen. Wir bemühen uns lediglich, inmitten des politisch und wirtschaftlich unterdrückten armen Volkes, ein von der einfachen und reinen Botschaft des Christentums durchdrungenes Leben zu führen."...
Deine Theologie entspringt aus einer Praxis, die sich in der Reflexion zur Theorie wandelt, um auf ihre Weise Teil und Sauerteig der Praxis zu werden. So bereicherst Du die Theologie mit einer neuen Vision der Beziehung zwischen Theorie und Praxis.
Ubersetzt von Rudolf Schermann
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