6855175-1977_12_12.jpg
Digital In Arbeit

Lockerer Maulkorb

Werbung
Werbung
Werbung

Die Budapester Theater sind voll von Leuten, die sehr aufmerksam den Dialogen auf der Bühne folgen. Die Erfahrung, daß dort Probleme behandelt werden, die die Menschen im Parkett wirklich bewegen, bestätigt sich immer wieder. Aber es müssen nicht immer Tagesereignisse sein.

Der in Siebenbürgen, im heutigen Rumänien, lebende ungarische Autor Andräs Sütö fand schon mehrmals Interesse mit Stücken, in denen er — seiner Herkunft gemäß — Auseinandersetzungen aufgreift, die seit der Reformationszeit aktuell sind. In „Stern auf dem Scheiterhaufen” war es der tragische Kampf des Michael Servet gegen einen „etablierten”, unduldsam gewordenen Calvin um die Gedankenfreiheit. Jetzt wird im „Jözsef-Attila- Theater” seine Michael-Kohlhaas-Be- arbeitung „Ein Palmsonntag für den Roßhändler” gespielt. Sütö hält sich im wesentlichen an die Kleistsche Handlung, auch „Luther Märton” persönlich tritt auf. Er wertet aber die Figur des Nagelschmidt zu einem geistigen Gegenspieler Kohlhaas’ auf: Nagelschmidt vertritt die Ansichten Thomas Münzers von Anfang an, während Kohlhaas es im Sinne Luthers für verbrecherisch hält, den Weg der Gewalt zu gehen und das Volk in ein Abenteuer hineinzuziehen, solange die Ideen Münzers noch nicht realisierbar sind. Am Schluß ist aber sein Standpunkt der absoluten Rechtschaffenheit in Frage gestellt: Kann man ein System des Unrechts anders als mit Gewalt ändern? Der echte Dramatiker zeigt sich in der Ausgewogenheit der Argumente beider Seiten, in einer Diskussion, die keine billige Lösung ansteuert. Knappe Szenen, dicht gefüllt mit Handlung, dennoch bleibt Raum für eine Fülle kluger Gedanken.

Viel gespielt wird auch Istvän Csur- ka. In seinen beiden neuen Stücken ist ein Filmregisseur die Hauptfigur. „Originalschauplatz” im Pester Theater: Ein unbegabter Regisseur verdankt Erfolge nur seinem tüchtigen Assistenten. Gleichwohl tritt er, Unsicherheit kompensierend, rücksichtslos und diktatorisch auf - worunter vor allem die Schauspieler zu leiden haben. Der Versuch, ohne Beistand des Assistenten einen Film zu drehen, der auf Festivalauszeichnungen spekuliert, scheitert. Der Assistent wird zu Hilfe gerufen, der Produktionsleiter setzt ihn schließlich sogar als verantwortlichen Regisseur ein. Doch in kurzer Zeit wird der sonst ständig gegen die Unfähigkeit Revoltierende seinem Vorgänger verdächtig ähnlich. Ein Naturgesetz scheint der Autor hier bloßzulegen: Die Karriere verdirbt den Charakter. Der Kampf gegen den Übermut der Mächtigen muß immer wieder aufs neue, von anderęn geführt werden. Ein Stück mit kaum verborgener aktueller Aussage.

Was ist eigentlich anders geworden, seit die Gesellschaft sich sozialistisch nennt? Diese Frage wird vom selben Autor in dem Stück „Renntag” direkt gestellt und - offengelassen. Ein Schriftsteller schleppt einen bekannten Filmregisseur zum Rennplatz, wo eine Gruppe Wettsüchtiger (darunter der Schrifsteller) ihre Tage verbringt und ihr und anderer Geld ausgibt. Der Regisseur läßt sich vom Wettfieber nicht anstecken und von den Fiebernden nicht anpumpen. Aber er erkennt, daß sich hier nackte Leidenschaften austoben, die in der wohlgeordneten Gesellschaft keine Betätigung finden. Die „Entfremdung” ist zwar abgeschafft, aber irgend etwas scheint die Gesellschaft solchen — an sich intelligenten—Menschenschuldigzubleiben. Das Stück wird von den besten Schauspielern des „Vig Szinhäz”, des traditionsreichen Lustspieltheaters, großartig gespielt. Das Stück ist aufregend, aber etwas sorglos gebaut - sollten die großen Sprechblasenmonologe, in denen sich die Süchtigen anklagen und endlich die Sehnsucht heim in die Gesellschaft ausdrücken, nachträglich eingebaut worden sein, um die Zustandsschilderung einer immer noch anfälligen sozialistischen Gesellschaft etwas zu mildem?

Wie schwer es ist, ein realistisches Stück in sozialistischem Geist zu schreiben, davon weiß auch der in Ungarn sehr bekannte Endre Fejes eini ges. Er hatte bisher Erfolg mit Romanen, die dann dramatisiert und verfilmt wurden. Diesmal hat er ein Originalschauspiel geschrieben, das nach längerem Hin und Her in dem kleinen, experimentierfreudigen „25. Theater” uraufgeführt wurde. Statt „Die Hochzeit der Margit Cserepes” könnte man es auch, frei nach Pirandello, „Sechs Personen fliehen ihren Autor” nennen. Der Schriftsteller, der hier als Hauptfigur auftritt, verrät ironisch, welche Art von Stücken verlangt und gut bezahlt wird: Stücke über Arbeiter. Er weiß auch, wie das Theater des „Sozialistischen Realismus” beschaffen zu sein hätte: „Der positive Held siegt - und alle zwanzig Zuschauer gehen zufrieden nach Hause.” Und - um noch ein Bonmot sinngemäß zu zitieren: „Hundert leere Häuser sind nicht so gefährlich wie ein Publikum, das aufrichtig Beifall spendet.” Diesmal will der Autor es anders machen. Er hat zwar einen prächtigen, charaktervollen, sauberen Arbeiter erdacht, den Päl. Aber die Margit, die er heiratet, die hat es gern, wenn ihr auch andere Männer den Hof machen. Nicht, daß sie wirklich untreu wäre, aber ein bißchen kokett ist sie schon. Es kommt hinzu, daß sie keine Aussicht auf eine gemeinsame Wohnung haben. Ein älterer Herr läßt sie in seiner Küche wohnen. Er wohnt nebenan, immer bereit, ein bißchen mitzugenießen und sei es nur als Horcher an der Tür. Der Schriftsteller will eine Tragödie. Aber er bringt den Päl nicht dazu, die Margit zu erschießen. Die Ehe der Margit Cseperes geht ganz undramatisch zu Ende. Der Reiz liegt in den vielen Anspielungen und Bemerkungen über das Alltagsleben - die ungarischen Auto ren gehen ebenso klug wie sachlich, mutig wie unvoreingenommen, ohne ideologische Brille und ohne literarische Artistik und Selbstbespiegelung ans Werk. Und die können sich manches leisten, was in „befreundeten” Ländern undenkbar wäre.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung