Loslassen ist nicht fallen lassen.
Loslassen ist nicht wegwerfen.
Loslassen ist nicht ein Aus-der-Hand-geschlagen- Bekommen.
Loslassen ist nicht ein schönes Wort für das Ausweichen vor Konflikten.
Loslassen kann ich nur, wo ich mich vorher eingelassen habe.
Loslassen kann ich nur, wo ich zulasse, daß ein naher Mensch einen Schritt, mehrere Schritte, einen Weg geht, der ihn wirklich er selbst werden läßt, nicht nach dem Maß meiner, sondern seiner Bestimmung.
Loslassen ist eine Nagelprobe erzieherischer Verantwortung. Es ist die Antwort auf die Sehnsucht, die Möglichkeiten und das Ziel, das ich im Du vernehme. Es ist die Antwort auf meine eigenen Werte. Die Art, wie sich solches Loslassen gestaltet, wirft ein Licht auf den Wert der bisherigen Erziehung und Beziehung.
Ich entdecke, daß jeder Mensch, auch der mir anvertraute, selbst antworten kann, ich bin verantwortlich dafür, die ihm möglichen Antworten nicht abzunehmen, sondern zu ermöglichen und loszulassen — diskret, langsam und in kleinen Dingen.
Loslassen stellt mich als Erzieher an einen Grenzübergang. Ich erlebe mich zwischen Erreichtem und Möglichem, zwischen Sicherheit und Wagnis, zwischen einem mir eben noch faßbaren und jetzt entzogenen Wirkbereich.
Im Absehen von mir sehe ich hin auf andere, die diese Nähe einnehmen werden, ich erlebe mich zwischen Realismus und Hoffnung und stehe an der Grenze meiner zeitlichen und menschlichen Endlichkeit.
Loslassen ist in seiner schönsten Gestalt eine Spielart des in Liebe und mit einem Vertrauensvorschuß Begleitet-Seins.
Ich denke an Noah, der seine Taube, die für ihre Füße beim ersten Ausflug noch keinen Halt findet (und das lag gar nicht an ihr), durch die Luke der Arche die Hand entgegenstreckte. Nicht strafend-grob, unsicher-ver- unsichemd, nicht enttäuscht-hoffnungslos stelle ich mir diese Szene vor, sondern einladend: einladend zum Ausrasten und Atemholen, bis es ein anderes Mal vielleicht gelingt…
Die Autorin ist Erzieherin in Klosterneuburg, ihr Beitrag ein Auszug aus „Lebenshüfe 1/1987“.
