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Lukács und späte Folgen

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Die Existenz einer „Neuen Linken“ in Ungarn ist unbestritten. Was aber Kädär, Nemeth und einige westliche Beobachter der Budapester Szene darunter verstehen — oder besser gesagt, bisher darunter verstanden haben, war der Kreis um den marxistischen Philosophen György Lukacs, die sogenannte „Budapester Schule“. Gibt es sie noch?

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Die Existenz einer „Neuen Linken“ in Ungarn ist unbestritten. Was aber Kädär, Nemeth und einige westliche Beobachter der Budapester Szene darunter verstehen — oder besser gesagt, bisher darunter verstanden haben, war der Kreis um den marxistischen Philosophen György Lukacs, die sogenannte „Budapester Schule“. Gibt es sie noch?

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Vor einigen Wochen ist in einem Westberliner Verlag (Merve) ein kleines Büchlein» erschienen, das den Titel „Die neue Linke in Ungarn“ trägt und zusammen mit seinen Vorläufern („Individuum und Praxis“, Suhrkamp 1974, „Die neue Linke in Ungarn“, Merve 1975) einiges zur Klarstellung der Positionen beiträgt.

Hegedüs, Markus, Heller und Vajda können nur noch im Westen publizieren, seit die „Budapester Schule“ vor drei Jahren in das Kreuzfeuer der Kritik einer Studiengruppe des Zentralkomitees geraten ist. Es waren in erster Linie Publikationen der westlichen „Neuen Linken“, die den reformerisohen Marxisten aus Ungarn eine propagandistische Plattform boten. Allerdings beruht dieses quasi-freundschaftliche Verhältnis der beiden Gruppen zum Teil auf Mißverständnissen, die besonders dann zutage treten, wenn es um die Verwirklichung der Theorie geht. Denn die westlichen Linken haben es bisher unterlassen, vor der Präsentation ihrer Ideen von der neuen Gesellschaft, die eine „Fremdmotivierung“ des Menschen ausschließen soll, die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation in Osteuropa zu analysieren.

Die mangelhaften Vorstellungen der Kreise um den Berliner Wagenbach-Verlag oder das „Neue Forum“ in Wien vom Leben der Menschen in etablierten „sozialistischen Systemen“ stößt bei den täglich damit konfrontierten Osteuropäern auf Befremden und Unverständnis. Aus dem gleichen Grunde ist die Reali-

tätsbezogenheit östlicher Reform-kommunisten ein wenig größer, haben sie es doch in erster Linie mit den bürokratischen Auswüchsen von Funktionärsdiktaturen zu tun.

Vom puristisch-marxistischen Standpunkt aus argumentiert zum Beispiel die Budapester Schule ungefähr so: Die sozialistischen Gesellschaften Osteuropas haben ein Stadium der Unbeweglichkeit, der Stagnation und sogar des Verfalls erreicht. Die marxistische Theorie als Staatsreligion dient lediglich der ideologischen Absicherung der Macht einzelner Personen oder Gruppen und der Festigung einer yon der Basis ungewünschten Hierarchie, der „neuen Klasse“. Der einzige bemerkenswerte Trend in der Entwicklung dieses Gesellschaftstyps ist seine Hinwendung zur Konsumorientierung, zu einer „Verwestlichung“ ohne Renaissance des Kapitalismus.

Die Macht ist nicht in der Hand der Massen, sondern zentriert, ihre Ausübung stellt eine Reihe >/on ideologischen und praktischen Kompromissen dar. Die so geschaffene Sozialstruktur hat mit den Ursprungsidealen des Marxismus wenig zu tun, als da sind: Humanisierung der sozialen Beziehungen, Volksherrschaft durch ein System sich selbst verwaltender Kommunen und eine aktive Philosophie, die auf der Suche nach neuen Lösungen ist.

Kein echter Marxist kann die Per-vertierung des Sozialismus im Ostblock leugnen, meint die Budapester Schule. Außerdem schaden diese Ent-

wicklungen und Auswüchse der Idee an sich, sowohl im Osten wie auch im Westen. (Eine Erkenntnis, die auch wesentlich in den programmatischen Ideen der italienischen, französischen und spanischen Kommunisten enthalten ist; von der auch Alexander Dubcek und Josef Smrkovsky 19J38 ausgingen und die heute zu einer Konfrontation des erstarrten Sowjet-Kommunismus mit den „Eurokommunisten“ einerseits und den „Volkskommunisten“ in Peking andererseits geführt hat.)

Einzig die „Neue Linke“ des Westens scheint den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen noch nicht begriffen zu haben. Sie begibt sich damit in Gefahr, von der Basis — in demokratischen Systemen imer loch die Wählerschicht — isoliert und von der Intelligenz nicht mehr ernstgenommen zu werden. Dennoch gibt es innerhalb der westlichen „Neuen Linken“ offensichtlich eine Gruppierung, die sich auf eine ideologische Auseinandersetzung mit den repressiven Sowjet-Systemen vorbereitet, denn wie anders wäre die anfangs erwähnte Suche nach einem zumindest publizistischen Dialog mit der Budapester Schule zu deuten?

Lukacs selbst ist in der besprochenen letzten Ausgabe der ,.Neuen Linken in Ungarn“ als Autor nicht vertreten. Er hat jedoch Vorarbeit geleistet durch seinen Brief an den Chefredakteur der Literaturbeilage der Londoner „Times“. Darin bezeichnet er die Arbeiten der Budapester Schule als Vorhut einer „Philosophie der Zukunft“.

Als Autoren findet man Andräs Hegedüs, den letzten stalinistischen Ministerpräsidenten des Landes, der sich inzwischen zum Hauptverfechter der Ideen der „Neuen Linken“ gewandelt hat; Agnes Heller, die nach Lukacs bedeutendste philosophische Kraft in Ungarn; und György und Maria Markus. Der wohl faszi-

nierendste Essay stammt von Marx Räkovsky — ein Pseudonym, hinter dem sich einer der bedeutendsten Marxisten der Gegenwart verbirgt.

Und hier gelangen wir zur Frage, welche Aussagen der Neuen Linken aus Ungarn für die westliche Gesellschaft wohl am bedeutendsten sind. Agnes Heller etwa schreibt, die Humanisierung innerhalb der sozialistischen Gesellschaft sei nur auf den Arbeitsplatz und das soziale Umfeld der Arbeit beschränkt, alle anderen Sphären seien ausgeklammert. Hegedüs und Maria Markus prangern die statische Form an, die der einstmals revolutionäre Marxismus angenommen hat, etwa sein Profitdenken. Das Angebot der Budapester Schule ist ein dritter Weg neben Sozialismus und Kapitalismus — ein revolutionäres Modell. Der Mensch, so steht zu lesen, sollte in- die Lage kommen, edne individuelle Prioritä-teniliste von Bedürfnissen langfristig aufzustellen und nicht dem momentanen Bedürfnis zu leben. Demnach sollten Gemeinschaften gebildet werden, die sich nicht nach den Anforderungen des Marktes richten,

aber auch nicht nach den Wünschen und Ambitionen der Staatsmonopole. Ohne ein Minimum von Selbstverwaltung an der Basis gehe es nicht.

Räkovski deckt in seinem Essay ein interessantes Phänomen auf. Es sei nämlich nicht mehr möglich, das Sowjetsystem mit der Terminologie des Marxismus zu definieren, was an sich schon einen Verrat an der Lehre von Karl Marx darstelle. Zwei Klassen gebe es jedenfalls, nämlich die „Produzierenden“ und die „Machtausübenden“. Stalinismus, Entstalinisierung und Restalinisde-rung hätten, laut Räkovski, einen „offiziellen“ und einen „oppositionellen“ Marxismus geschaffen. Für letzteren gebe es, meint der Autor, wenig Hoffnung. Wenn man jedoch fortfährt, soziale Spannungen zu kanalisieren, „bilden sieh Randschichten, die nicht in die Gesellschaft zu integrieren sind, sich jedoch vermehren“. Eine dieser Schichten oder Gruppen ist zweifellos der idealistische Marxismus, wie er von der Lukäcs-Schule repräsentiert wird.

Mit Recht mag man hier sagen: Alternativen werden nicht angeboten, zumindest keine überzeugenden. Dem Hang der Funktionärsdiktaturen zur Konsumgesellschaft ein System „höherer Werte“ entgegenzusetzen, erscheint angesichts der Realitäten und persönlich-menschlichen Bedürfnisse im Osten als geradezu naiv. Auf der momentanen Entwicklungsstufe scheint die Budapester Schule ebenso verunsichert zu sein wie die „Neue Linke“ im Westen. Zwar klingen Ansätze des jugoslawischen Selbstverwaltungsmodells an, werden jedoch nicht konsequent analysiert. Trotz allem sollte man die Impulse der Budapester Schule nicht unterschätzen, denn, wie Irving Fetcher in seiner Abhandlung über die Neue Linke in Ungarn schrieb, die Budapester Schule demonstriert eindringlich, daß marxistisches Denken in Osteuropa noch nicht zum völligen Stillstand gelangt ist.

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