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„Lumpen“ und „Klassenkämpfer“

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Auf dem von Scheinwerfern ausgeleuchteten Königsplatz in München, unter dem Bellen von Polizeihunden und den skandierten Buhrufen der Roten Garden, hat der CSU-Vorsitzende Strauß vor mehr als 10.000 Zuhörern den Bundestagswahlkampf 1972 eröffnet. Tenor seiner Rede war das Grundmotiv, das der „Bayernkurier“ mit seinem Verweis auf die „letzten freien Wahlen“ in der Bundesrepublik ausgegeben hatte.

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Auf dem von Scheinwerfern ausgeleuchteten Königsplatz in München, unter dem Bellen von Polizeihunden und den skandierten Buhrufen der Roten Garden, hat der CSU-Vorsitzende Strauß vor mehr als 10.000 Zuhörern den Bundestagswahlkampf 1972 eröffnet. Tenor seiner Rede war das Grundmotiv, das der „Bayernkurier“ mit seinem Verweis auf die „letzten freien Wahlen“ in der Bundesrepublik ausgegeben hatte.

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„Wir stehen an einem Scheideweg der gesellschaftspolitischen Ordnung“, verkündete Strauß den Münchnern an diesem kalten Oktoberabend. Hie freie, soziale Marktwirtschaft, Sicherheit und Stabilität — dort eine sozialistische, kollektivistische Gesellschaft, in welcher der Bürger auf vielerlei Weise gegängelt wird. Und kurz darauf — zu weltpolitischer Perspektive ausholend —: „Wir stehen auch an einem Scheideweg der europäischen und atlantischen Ordnung.“ Deshalb sollten die Wähler mit dem Stimmzettel dem Machtmißbrauch ein Ende setzen. Jetzt müsse wieder demokratisch regiert werden mit der CDU/CSU.

Wenige Tage zuvor hatte der Landesvorsitzende der SPD, Hans-Jodhen Vogel, im Beisein von Bundeskanzler Brandt auf dem Messegelände vor ausgewählten Genossen eine andere Parole ausgegeben. Daß der „aalige, gelegentlich auch ölige“ Routinier Barzel an Stelle des unerschütterlichen Staatsmannes Brandt trete, sei „ganz undenkbar“, sei das „institutionalisierte Risiko“. Barzel könne keinen Fortschritt auf Stabilität bauen, er baue im Gegenteil den „Rückschritt und das Risiko auf Strauß“. Eine breite Koalition der Vernunft zwischen SPD, FDP, Arbeitnehmern, Intelligenz, Christen, Jugend und Frauen sei aber imstande, in Bayern der CSU einen nicht unbeträchtlichen Teil der 400.000 Stimmen abzunehmen, auf denen der „unheilvolle Einfluß“ dieses Mannes im Grunde beruhe. Nur so werde über Bayern die schwarze Fahne der Vergangenheit niedergeholt und die Fahne des demokratischen Sozialismus aufgezogen werden. Nur so leiste Bayern seinen besonderen Beitrag zum Kampf der deutschen Sozialdemokraten, damit Brandt Bundeskanzler bleibe. Was in der übrigen Bundesrepublik wegen der unscharfen Konturen an der CDU-Spitze nur begrenzt zum Zuge kommt, das ist im südöstlichsten Bundesland beinahe dominierende Wahlkampfmanier: auf die gegnerische Führungspersönlichkeit zugespitzte, den objektiven Sachverhalt oft drastisch verfremdende Rededuelle. Hier konnte ein Günter Grass unter Beifall Vogels in Weilheim Strauß als „hochkarätigen

Lumpen“ vorstellen; hier durfte das CSU-Organ Brandt in die Nähe von Hitler rücken; hier bezeichnete Vogel den CSU-Vorsitzenden als aggressiven, zügellosen Kleinbürger mit deutlichen Anzeichen einer Tor-schlußpanik, der keine einzige Antwort auf aktuelle Fragen gebe. Und hier apostrophiert Strauß den Bundeskanzler als Klassenkämpfer und Chef einer Regierung, die in manchen Bereichen nicht mehr demokratisch sei und die die 1969 gegebenen Versprechungen fast ausnahmslos gebrochen habe.

Daß diesmal der Wahlkampf in Bayern härter und massiver geführt wird als vor drei Jahren, hängt nicht nur mit der Situatoon in Bonn zusammen. Im Gegensatz zu 1969 stehen jetzt an der Spitze der wichtigen Parteien Männer, die sich alle über die Landesgrenzen hinaus profiliert haben. Wie Strauß wurden auch Vogel und Ertl beinahe einstimmig auf die ersten Plätze der Landeslisten der SPD und der FDP gewählt. Hinzu kommt die Tatsache, daß vor allem in diesen beiden letzteren Parteien die fähigsten Nachwuchspolitiker, welche sich die ersten Sporen im Landtag oder im Münchner Stadtrat verdient haben, auf einem sicheren Listenplatz den Sprung nach Bonn wagen. Auch der Vogel-Anitipode Dr. Schöfberger, dem die Absicherung allerdings erst im zweiten Anlauf gelang, gehört zu dieser Riege. In der FDP mußte der fränkische Bäckermeister Geldner, der vor zwei Jahren seiner Partei als „agent provocateur“ gedient hatte, zugunsten des Münchner FDP-Oberbürgermeister-Kandidaten Engelhard um einen Platz nach hinten rücken.

In der Argumentation der Wahlreden findet sich dementsprechend eine besondere, persönlichkeits-getönte Akzentuierung. Strauß wächst immer mehr in die Rolle eines Volkshochschulprofessors hinein, der auf Plätzen und in Bierzelten Volkswirtschaft doziert. Fast zwei Drittel seiner Reden gelten diesem Thema. Hier schildert er die Rauschgiftsucht und das Gespenst der schleichenden oder trabenden Inflation, die der „Jakobiner und Demagoge Schmidt nicht als hausgemacht anerkennen“ wolle. Hier billigt er der Regierung — deren

Jahresdeflzit zwischen Versprechen und Wirklichkeit zwölf Milliarden ausmache — zu, daß sie wenigstens eine Reform zustande gebracht habe: die Reform der Preise. Und hier verheißt er unter einer CDU/CSU-Regierung Schweiß und Arbeit. Dafür werde die Deutsche Mark wieder zur stabilsten Währung der Welt werden.

Vogel variiert im wesentlichen zwei Themen, die er aus seiner Oberbürgermeisterzeit übernommen hat: menschenwürdige Umwelt und demokratischen Sozialismus. Bald werde sich nur noch eine Minderheit von Reichen den freien Zugang zur Natur oder eine zentrumsnahe Wohnung leisten können.

Die Reaktion der Wählerschaft auf dieses Kontrastprogratmm ist noch weitgehend ungewiß. 1969 entfielen in Bayern 54,4 Prozent der für die Landeslisten entscheidenden Zweitstimmen auf die CSU, 34,6 Prozent auf die SPD und 4,1 Prozent auf die FDP. 49 Abgeordnete entsandte daraufhin die CSU, 31 die SPD und 4 die FDP nach Bonn. Mittlerweile hat sich die Zahl der CSU-Abgeordneten noch um zwei erhöht, da Starke von der FDP und Müller von der SPD einen Parteiwechsel vollzogen haben. Die überdurchschnittliche Konstanz der bayrischen Wähler könnte dazu führen, daß am 19. November das Ergebnis von 1969 nur geringfügig modifiziert wird. Die besten Chancen auf einen stärkeren Gewinn werden zur Zeit dem Politiker eingeräumt, der mit seiner Partei am behutsamsten auftritt: Josef Ertl. Pragmatisch hat er auch schon — wenn nicht für morgen, so doch für übermorgen — eine Lösung für eine neue Bonner Patt-Situation angedeutet. Auf die Möglichkeit einer Koalition mit der CDU/CSU angesprochen, meinte er: „In der Politik sage ich nie .nie'.“

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