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Lust am Erzählen

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Einem ist gut zuhören. Die meisten Menschen haben indessen eine größere Freude am Erzählen als am Zuhören. Nicht immer trifft darum ein guter Erzähler auf einen guten Zuhörer ... Wenige beherrschen die sogenannte „Rhetorik des Schweigens". Oft wird das Hören auch zu einem Akt des Gehorchens. Wenn etwa der Vorgesetzte Witze erzählt und die Untergebenen aufmerken und applaudieren müssen. Unter diesen sozialen Rahmenbedingungen der Narration wird auch die Frage: Kennen Sie den schon? zu einer rein rhetorischen, deren Bejahung sich geradezu kategorisch verbietet.

Auch zwischen Lehrern und Schülern ist das Bildungsgefälle eine Institution und somit konstitutiv für dieses besondere Verhältnis. Und so ist auch in der Schule klargestellt, wer hier dos Sagen hat.

„Erzählen" bzw. „Zuhören" war im übrigen zu meiner Schulzeit der spezielle Genuß der letzten Stunden vor dem Ausbruch der Ferien. Mit großer Aufmerksamkeit lauschten wir dem Herrn Lehrer, wenn er vom Krieg erzählte. Das war kein gewöhnliches Zuhören mehr, sondern bereits ein Horchen! Wie er zu seiner Verwundung gekommen ist. Und von den Kriegsweihnachten, mit denen sich die Friedensweihnachten niemals vergleichen können. Schön traurig war das. Herr Eckstein machte es sehr spannend. Aber auch im Falle eines Lehrers, der „es nicht bringt", hat das Erzählen in der letzten Schulstunde seinen Reiz, mindestens jenen der Dispensation vom Unterricht, der Amnestie gewissermaßen. Besser als Lernen erschien uns die verhauteste Geschichte noch allemal.

Ich werde dir einmal etwas erzählen! Dieser Satz muß nicht unbedingt die Ankündigung einer epischen Wohltat, er kann auch eine ernste Drohung bedeuten. Auch der Zurechtweisung „Erzähl mir nichts!" liegt ein unfreundliches Verständnis alles Weitschweifigen zugrunde, des Redens als Ausredens. Nicht immer ist „Amplifikation", wie die Poetik die Ausführlichkeit nennt, erwünscht und willkommen. Mancher kommt aber auch wirklich an kein Ende und auf keinen grünen Zweig, und die Zuhörer sitzen schon auf Nadeln.

Die Römer haben gewußt, warum sie einen natürlichen Rhythmus von „amplificatio" und „ab-breviatio" verlangt haben. Das ist eine vernünftige Grundforderung der sogenannten „Erzählstrategie". Die wissenschaftlichen Ausdrücke „Strategie" und „Erzähltechnik" zeigen freilich, wie theoretisch, abstrakt und kalt man das altehrwürdige herzerwärmende Großmuttergeschäft des Erzählens bereits analysiert hat... Kinder haben damit keine Probleme, keinem Kind würde einfallen zu monieren: „Oma, du hast jetzt die Erzählperspektive gewechselt!"

Viele erzählen immer gleich, manche aber verfahren nach dem Grundsatz „variatio delectat", Abwechslung ist angenehm. Es gibt jedoch neuralgische Punkte im Erzählen. So sollte mindestens das Ende faktisch stimmen und übereinstimmen. Viele Wege führen nach Rom. Man kann von Wien auch über München in die Heilige Stadt fahren. Ein wenig Umwegfreundlichkeit ist jedem Erzähler zugestanden. Nicht das Ziel, sondern der Weg macht es aus. Konsequenz und Inkonsequenz mit Maß und Ziel!

Im Bereich der Dichtung heißt das phantasievolle Erzählen „fiktional". Im Augenblick erlebt alles Fiktionale und Illusionäre wieder einmal eine Krise. „Schluß mit dem Erzählen und andere Erzählungen", heißt der beziehungsreiche Titel eines Bandes Prosa von Michael Scharang. Keine Stories mehr, wann endlich beginnt der Realismus! Aber was immer man an realistischer Anstrengung bis hin zur dokumentarischen Literatur unternommen hat, alsbald traten die Kritiker auf den Plan und stellten enttäuscht fest, daß der Realismus, der eigentliche, wirkliche und wahre, schon wieder verfehlt wurde. So ist jeder Realismus immer in irgendeiner Weise ein wenig „poetisch" und nie ganz rein ... nomina ante res! Die Wörter stehen den Sachen im Weg.

Es gibt neben dem begabten Einzelerzähler übrigens auch die Erzählkooperative. Von einer meiner früheren Arbeitsstätten ist mir ein erzählendes Ehepaar in lebhaftester Erinnerung. Wie sich die beiden guten Leute in Gesellschaft alternierend als Stichwortgeber einerseits und die eigentliche Erzählung Exekutierende andererseits bewährten! Auch Fremd- und Selbstkorrekturen, Rückfragen und „Zurechtweisungen" belebten die Beiträge der beiden munteren Narratoren. Nicht nur das „Was", der Gegenstand der Erzählung, sondern auch, ja noch mehr das „Wie", die Art der Darstellung, die stets eine wirkliche Darbietung wurde, unterhielten uns dabei. Das eigentlich „Geschichtliche", das historische Substrat der Historien kann in einem solchen Fall gern schon bekannt sein, so bekannt wie der Inhalt und der Ausgang von Goethes „Faust" den meisten Kunstliebhabern im vorhinein geläufig ist.

Ist Erzählenkönnen eine natürliche Begabung, die etwa die berühmten „Märchenfrauen", die den Brüdern Grimm den Großteil ihrer Kinder- und Hausmärchen mitgeteilt haben, besaßen, so ist sie in der Literatur als Erzählkunst zu höchstem ästhetischem Ansehen gelangt. Adalbert Stifter ist nach meinem Urteil der prototypische Erzähler, sein „Nachsommer" die Erzählung schlechthin. Gelassenheit, Gutbürgerlich-keit, Traditionsbewußtsein, Selbstgewißheit, Geruhsamkeit, Einläßlichkeit, Weltfrömmigkeit — dies sind einige der Tugenden des Böhmerwälders.

Konsens herrscht im übrigen, was diese Einschätzung Stifters betrifft, in Literaturwissenschaft und Literaturkritik noch längst nicht. Jeder dieser Qualitäten entspricht nach anderer Meinung eine Untugend: „Elephantiasis' des Stils" hat Arno Schmidt beim „sanften Unmenschen" diagnostiziert. Von Behäbigkeit, Umständlichkeit, Langatmigkeit, Immobilismus, Verdrängung, Stilisierung, Idealisierung, Viel- und Wohlredenheit ist die kritische. Rede...

Die höchste Würde hat das Erzählen aber nicht in der Kunst der weltlichen Bücher, sondern in der Heiligen Schrift erlangt. Narrati-ve Theologie ... Gut ist es, sich zu vergegenwärtigen, daß uns im Evangelium, der „guten Botschaft", etwas erzählt und mitgeteilt wird. Von religiösem Übel aber wäre es, den Unterschied zwischen (fiktionaler) Erzählung und (referierendem) Bericht nicht zu bedenken, die Geschichte in diesen „Geschichten" des Orients zu ignorieren.

Vorabdruck eines Beitrages zum „Lexikon der Lebensfreuden", das im Verlag Herder, Freiburg, erscheint.

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