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Lyrik in unserer Zeit

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Friedrich Hölderlin sagt uns in einem späten Gedicht: "Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet /Der Mensch auf dieser Erde." Niemals scheint der Weltzustand diesem Schlüsselwort weiter entfernt gewesen zu sein als der gegen-wärtige. Weder wohnt der moderne Mensch wirklich auf und mit der Erde, und schon gar nicht weiß er sich in einer dichterischen Sprache. Vielmehr ist ihm die Welt als beinahe ausschließlicher Erwerb zugefallen - dies freilich nicht im Sinne Hölderlins. In den Machen-schaften der Raffgier und des Machtmißbrauchs, in der bis zum äußersten getriebenen Vernutzung unserer Erde, der planetarischen Berechnung also, bewährt sich in Wahrheit nunmehr die vielberufene Humanitas der Europäer. Sie verendet jetzt im Katalog der "Werte". Alles muß bewertet und berechnet werden. Ob es zum Bei-spiel das Gerede vom Arbeiterkon-tingent ist, oder ob vom sogenann-ten Kunstmarkt gesprochen wird, immer wird damit das rechnende Denken evoziert, das im 20. Jahr-hundert von den Realisatoren der Ideologien nur allzu gründlich umgesetzt worden ist. Einer der Glaubenssätze unserer Gegenwart heißt: Alles Sinnvolle muß Wert haben, alles ist machbar.

In dieses Zeitalter sieht sich nun der Künstler hineingestellt, der als Schriftsteller beziehungsweise Ly-riker sozusagen dem "wertlosesten" Tun nachhängt, allerdings nur dann, wenn er sich nicht dem saisonalen Schaffen im Sinne eines momentan vorherrschenden Zeitgeistes verschrieben hat. So mag es manchmal doch auffällig sein, daß nicht wenige der "engagierten" Autoren, welche sich mit Verve und hohem moralischen Anspruch der Politik zuwenden, die Sprache kei-neswegs "als das Haus des Seins" (Heidegger) betrachten und solcher-art eine Ausdrucksweise vorzeigen, wie sie erschreckender nicht gedacht werden kann. Es hat wohl damit zu tun, daß unsere Sprache -und damit auch die Dichtung- mehr und mehr als ausschließlicher Kom-munikationsträger in einer quanti-fizierenden Welt angesehen wird, deren Gesellschaft meist nur auf die Frage nach den Nützlichkeiten konzentriert scheint.

Dichtung als Introspektion, als Einfühlung in das Inständige der Existenz und gleichzeitig als Wissen um die lange Herkunft des Wortes, dies meint schließlich Hölderlin mit seiner Vorstellung, der-zufolge das Menschenleben selbst zu einem dichterischen Entwurf werden muß. Wenn wir das nicht nur als hoffnungslose und abseitige Utopie anerkennen wollen, wäre in diesem Zusammenhang auch über einen Satz Friedrich Hebbels nach-zudenken, der einmal davon spricht, Dichten hieße die Welt wie einen Mantel um sich schlagen, um sich daran zu wärmen.

Insbesondere für den Lyriker, der mit seiner Arbeit nicht auf die vor-dergründige "Wirkung", also die gesellschaftliche Nutzbarmachung abzielt, ergibt sich damit natürlich sofort die Frage, ob unsere Welt, abgesehen vom subjektiven Erleb-nishorizont des Schreibenden, überhaupt noch zu wärmen vermag, da es doch im Weltganzen spürbar kälter geworden ist. Wozu daher eine solche Lyrik? Ist es noch nötig, der Verlassenheit und To-deserfahrung, der Befremdung und der Erinnerung an sie, oder den vergehenden Mythen Ausdruck und Empfindung zu schenken, indem man auf diese Grundthemen des Existentiellen in immer wieder variierender Weise eingeht? Ist es tatsächlich notwendig, auf solche Winke des eigenen Geschicks zu achten, um dann mit einer gleich-sam "radikalen Rauhheit" des Sagens einander anzusprechen und zu beunruhigen? Wahrscheinlich doch. Denn aus einer solchen Be-unruhigung heraus vermögen Dich-tende als auch Hörende im ursprünglichsten Sinn am Leben zu bleiben. Nämlich dann, wenn sie unvermittelt auf die "Lichtung" stoßen - inmitten der Alltäglichkeit und des banalsten Lebensvollzugs-, aber auch der entferntesten Träume. Diesen Momenten muß das geglückte Gedicht völlig entspre-chen, in seiner einfachen wie be-fremdlichen Aussage, in seiner sinn-haften Imagination.

Wenn uns schon vieles verlassen hat, jene dichterische Sprache hält noch, hält uns einen schmalen Durchlaß offen in eine bestürzende Gegend, wo sich das Fragwürdige dem Fragenden nicht entzieht, wo wir uns dem Dasein vollkommen stellen können, wenn wir achtsam und aufgeschlossen genug dazu sind, auf es zu hören. Jenseits des nur vordergründigen Weltgetriebes müssen wir hindurch, und zwar so, daß wir allen berechnenden Trost, jede wertende Metaphysik, jede ablenkende Gefälligkeit an den Zeitgeist mit seinen ästhetisieren-den Untergangshysterien und einer daraus resultierenden, beinahe perfekten Sozialisation, beiseite lassen. Und wenn darüber nur die Trauer am Leben bleiben möchte, ist uns schon eine Hoffnung zuge-sprochen, ist nichts umsonst gesagt gewesen, haben wir eigentlich "dichterisch gewohnt".

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