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Macht Stadtflucht frei?

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Wohnung, das heißt nach einer größeren und besser ausgestatteten, dennoch nicht zu teuren und möglichst eigenen Wohnung in angenehmer Umgebung. Für einen Teil der Bevölkerung ist dieser Wunsch finanziell realisierbar geworden.

Somit stehen einander zwei gegenläufige Entwicklungstendenzen (Verschlechterung der großstädtischen Wohnattraktivität einerseits und wachsende Ansprüche der Bevölkerung an

^^jL#evor ihr in eure Zweitwohnungen fahrt, macht ihr doch alles dicht in der Stadt, schließt die Türen, laßt die Rolläden herunter, so daß am Wochenende nichts los ist. Wenn wir dann Musik machen wollen auf der Straße, sagt man uns, wir sollen Rücksicht nehmen auf die Bewohner. Die sitzen aber irgendwo draußen und sind gar nicht da.“

Diese verbitterte Stellungnahme eines Jugendlichen in Wien charakterisiert die Situation: das städtische Leben endet am Freitag und setzt erst am Montag wieder ein. Die Stadtflucht vor Smog, Lärm und Alltagstrott leert die Straßen und hinterläßt Einsamkeit für viele und ein kulturelles Vakuum.

Man kann Stadtflucht allgemein als eine Abstimmung über die Lebens- und Wohnverhältnisse in der Stadt mit dem Möbelwagen bezeichnen: die hohe Wohn- und Arbeitsdichte in den Städten, die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsplatz und die Zunahme des Kraftfahrzeugbestandes führen zu einer extrem hohen Verkehrsdichte und damit zu starker Lärmbelästigung und Luftverschmutzung.

Die öffentlichen Verkehrseinrichtungen sind den Anforderungen in den Ballungsgebieten immer weniger gewachsen. Banken, Versicherungen und sonstige Dienstleistungsbetriebe breiten sich in den Innenstädten aus und verdrängen die Wohnbevölkerung in die Randbezirke oder in das Stadtumland. Steigende Bodenpreise in der Innenstadt lassen fast nur noch eine gewerbliche Nutzung des Bodens zu. Naherholungsflächen und Grünanlagen in den Innenstädten sind rar.

60 Prozent der Wiener geben als Motiv der Abwanderung schlechte Wohnverhältnisse an und von den rund 260.000 erfaßten Zweitwohnungen in Österreich liegen mehr als zwei Drittel in einem Stadtumland - in der Nähe des Hauptwohnsitzes oder Arbeitsplatzes.

Der zunehmende Lebensstandard nährte den Wunsch nach einer besseren

Wohnkomfort und Wohnumwelt andererseits) gegenüber und determinieren im wesentlichen Umfang, Tempo und Richtung der Wanderungsbewegung.

Je größer die Städte sind, desto mehr scheinen sie vom Prozeß der inneren Erosion bedroht. Prognosen sagen, daß die Städte in den nächsten Jahren einen Bevölkerungsrückgang erleben, der im Einzelfall zwischen fünf und 20 Prozent geschätzt wird, wenn die Entwicklung ungesteuert fortläuft.

Das bedeutet aber nicht einen natürlichen Bevölkerungsverlust, den die Städte erleben, sondern die Tatsache, daß die Städte immer mehr Einwohner an das Umland verlieren und die Verdichtungsgebiete immer weiter in das Umland hineinwachsen, obwohl die Zahl der Bevölkerung insgesamt höchstens stagniert.

Besorgniserregend ist, daß fast nur jüngere, gut verdienende Bevölkerung aus der Stadt zieht, die sich diesen Schritt

leisten kann, während in der Stadt sozial schwächere Grpppen aller Art verbleiben: die Alten, Gastarbeiter, Jugendliche, Kinderreiche.

Während vorhandene Infrastruktur in den Städten automatisch geringer genutzt wird - wobei die Betriebskosten in voller Höhe weiterlaufen -, steigt in den Zuzugsgemeinden der Infrastrukturbedarf unverhältnismäßig an. Vorhandene städtische Infrastruktur bleibt ungenützt, während neue Infrastruktur auf dem Lande an die Grenzen der Finanzierbarkeit stößt.

Die Verstädterung hat nicht nur verheerende Wirkungen auf die Landschaft, sondern zerstört auch Kulturtraditionen der dörflichen Gemeinschaft.

Betrachtet man Stadtflucht als Ausdruck der Stadtkritik, stellt sich die Frage nach Problemlösungsmodellen. Hier möchte ich drei Grundsätze hervorheben:

Fortschreibung von Wachstumsraten und einseitige Ausrichtung auf materielle Bedürfnisse kann nicht Ziel der Politik sein. Zum einen ist so gut wie sicher, daß ökonomisches Wachstum nicht mehr im gleichen Umfang möglich sein wird. Überdies hat die Aussicht auf materielle Verbesserung in dem Maß ihre Faszination verloren, in dem man merkte, daß wachsender Lebensstandard allein kein sicherer Weg zu vermehrtem Lebensglück ist. Diese Vision hat keine Zukunft mehr.

Wir müssen uns zur Erkenntnis

durchringen, daß das wichtigste menschliche Bedürfnis nicht darin besteht, mehr zu verdienen oder Karriere zu machen, sondern darin, sich’selber achten zu können, von anderen geachtet zu werden, Erfolgserlebnisse zu haben, also in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit Fortschritte zu beobachten, einen Standort im Leben zu gewinnen und sich dadurch zu befreien.

Die Unterteilung unserer Gesellschaft in Klassen von Kapital und Arbeit taugt nicht zur Erklärung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es sind andere soziale Konflikte, die einer Lösung harren. Hier gilt es, Ungleichheiten zu erkennen, so zwischen Greißler und Supermarkt, Bürger und Bürokratie, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Fußgängern und Autofahrern, Nichtorganisierten und Verbänden, und sich für die Schwachen stark zu machen.

Entscheidend wird sein, in welchem Ausmaß man die Bewohner der Städte dazu bringt, Eigeninitiative und Einsatzwillen für ihre Wohnumgebung zu entwickeln. Denn initiative Bürger sind für die Attraktivität einer Stadt als Lebensraum von entscheidender Bedeutung. Je mehr Mitwirkungs- und Mitbeteiligungsmöglichkeiten der Bürger in der Stadt vorfindet, desto mehr wird er sich hier zuhause fühlen.

Durch ungeheure Schneefälle wurde heuer im Winter Lech am Arlberg derart eingeschneit, daß der Ort von der Umwelt völlig abgeschnitten war und niemand hinaus oder hinein konnte. Wie mag die Situation aussehen, wenn aus Graz oder aus Wien die Menschen nicht mehr mit dem Auto fahren können, weil Benzin so teuer geworden ist’/

Keinesfalls wird am Wochenende alles geschlossen sein. Wenn die Mehrheit der Bürger in der Stadt bleibt, werden die Lokale offen haben und vielleicht sogar die Geschäfte. Flexible Arbeitszeiten werden es ermöglichen, daß auch berufstätige Frauen am Abend einkaufen können.

Weil in der Stadt was los ist, wird es auch nicht zu jugendlichem „Freizeitterrorismus“ kommen. Die Bürger werden sich dagegen wehren, daß Wohnungen leerstehen oder als Spekulationsobjekt dienen.

Es wird ein vielfältiges Kulturangebot geben, von der Straßenmusik zym Kinderfest, vom Konzertcafe zum Kulturwanderweg im Bezirk, vom Ideenmarkt zum Grätzlfest. Kommunalpolitik muß das Klima einer Stadt bestimmen, ein Klima, das so aussehen muß, daß die Bewohner ihre Stadt nicht verlassen. Sonst macht Stadtflucht frei - aber nur die Städte von ihren Bewohnern.

Der Autor ist „pro Wien“-Referent und Geschäftsführer der Kommunalpolitischen Vereinigung der ÖVP.

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