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Macht und Ohnmacht von Gewerkschaften

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Zur selben Zeit, da die polnischen A rbeiter um ihre Selbständigkeit gegenüber der allgewaltigen Partei ringen, um die verwehrte Möglichkeit, sich frei zu organisieren, ergehen sich die britischen Gewerkschaften an ihrem Jahreskongreß in der üblichen Selbstbeweihräucherung und den gleichermaßen gewohnten Philippiken auf die Regierung Thatcher. Die Szenerie in den polnischen Industriezentren an der Ostseeküste und im englischen Badeort Brighton ist so abgrundtief verschieden wie die Situation der Gewerkschaften hier und dort.

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Zur selben Zeit, da die polnischen A rbeiter um ihre Selbständigkeit gegenüber der allgewaltigen Partei ringen, um die verwehrte Möglichkeit, sich frei zu organisieren, ergehen sich die britischen Gewerkschaften an ihrem Jahreskongreß in der üblichen Selbstbeweihräucherung und den gleichermaßen gewohnten Philippiken auf die Regierung Thatcher. Die Szenerie in den polnischen Industriezentren an der Ostseeküste und im englischen Badeort Brighton ist so abgrundtief verschieden wie die Situation der Gewerkschaften hier und dort.

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Unter dem weißen Adler auf dem roten Grund sowjetischer Zwangsherrschaft schlägt die Geburtsstunde freier Arbeitervertretungen, mit Bangen beobachtet die Welt, ob sich das erwachte Leben erhalten kann. Was sich sonst von der Partei Gnaden als Gewerkschaft im Osten präsentiert, ist nichts anderes als Multiplikator des Parteiwillens in den Massen. Sind sich dessen die britischen Verbände bewußt, wenn sie einer Einladung der offiziellen polnischen Gewerkschaften Folge leisten?

Der Gewerkschaftskongreß auf der Insel hingegen bietet die Demonstration eines gesellschaftlichen Gefüges, das seinen Existenzkampf schon im letzten Jahrhundert durchgestanden, heute seine Macht so ausgebaut hat, daß Regierungen gehen müssen, wenn sie es sich mit den Verbänden verderben. Im Jahre 1974 ist der Tory-Pre-mier Heath über den Streik der britischen Bergarbeiter gestolpert. Fünf Jahre später ging es dem Ministerpräsidenten der Arbeiterpartei, James Cal-laghan, nach einem eisigen Streikwinter nicht besser.

Die Gewerkschaften als Machtsäule des Staates! Frau Thatchers Erklärung ist beizustimmen, die Verbände könnten sich nur in einer demokratischen Gesellschaft mit einer derartigen Machtfülle ausstatten, daß ihnen die Erhaltung und Erweiterung dieses Einflusses zum Nonplusultra ihrer Politik geworden ist. England bietet das Beispiel von historischer Tragweite, wie eine demokratische Organisation - bewußt oder unbewußt - jene Grundfesten unterminiert, auf die sich ihre Gesellschaft stützt.

Das wirtschaftliche Leben steht still, wenn es die Gewerkschaften wollen oder besser: wenn es deren uneinsichtiger, militanter Teil für gut befindet. Das Chaos der britischen Wirtschaft ist nicht zuletzt auf das schonungs- und rücksichtslose Treiben der Verbände zurückzuführen. Schon unter der Labour-Regierung,

„Die Misere der englischen Wirtschaft, von den Gewerkschaften mitverschuldet, ist ein fruchtbarer Boden für die Störaktionen der Verbände"

dem eigentlichen Bundesgenossen der Gewerkschaften, spielten sich Szenen ab, die dem Buche sowjetischer Schaudermärchen über den kapitalistischen Westen entnommen sein könnten: Rot-Kreuz-Fahrer, die ihre Patienten nicht im Spital abliefern, obwohl diese in Lebensgefahr schweben. Täglicher Abfall türmt sich auf den Straßen, weil die zuständigen Reinemacher in den Streik getreten sind. LKW-Fahrer blockieren die Zufahrten zu Fabriken, durch gesetzliche Immunität vor dem Zugriff der Ordnungshüter geschützt.

Thatcher ist umso mehr gefährdet, dem Kollisionskurs der Verbände konfrontiert zu sein - zumindest den Radikalen in den Gewerkschaften steht der Sinn danach. Mick McGahon, kommunistischer Führer der schottischen Bergarbeiter, hat im Vorfeld des Kongresses die Losung ausgegeben: „Wir wollen die Voraussetzungen zu Neuwahlen schaffen, um die Niederlage der Thatcher-Regierung zu besiegeln!",,

Doch die energische Premierministerin dürfte selbst für die stürmischen Gewerkschaften nicht so leicht zu schaffen sein. Sie hat den ersten harten Winter -in dieser Jahreszeit gehen gewöhnlich die Streikwellen hoch - ungebrochen und unbeschadet überstanden und resümiert: „Unser Weg ist richtig!" Auch der Durchschnittsbürger ist der ewigen Querelen im Lohndisput müde, er hat Frau Thatcher das Mandat gegeben, damit endlich Ruhe eintritt, Mitglieder der Verbände und traditionelle Labour-Wähler eingeschlossen. AufSchritt und Tritt wird er daran erinnert, daß er in einer zerrütteten Gesellschaft lebt, etwa dann, wenn im täglichen Sortiment von Tages- und Wochenzeitungen das eine oder andere Exemplar wegen „laufender Tarifverhandlungen" fehlt, oder das Fernsehen außer Betrieb steht.

Die renommierte „Times" blieb fast ein Jahr aus den Verkaufsständen, der „Observer" stand vor der Einstellung, das unabhängige Fernsehen hatte eineinhalb Monate Funkstille, immer weil sich Gewerkschaften gegen die Einführung neuer Techniken wandten. Wenn es sein muß, bleibt der letzte Rest von Humanität auf der Strecke: in einem Londoner Spital wurde die ölzufuhr von Streikenden unterbunden.

Die Misere der englischen Wirtschaft, von den Gewerkschaften mitverschuldet, ist ein fruchtbarer Boden für Störaktionen der Verbände. Die Schlange der Arbeitslosen hat sich über die ominöse Schwelle von zwei Millionen ausgedehnt, zum Europarekord ist es nicht mehr weit. Die Regierung steht auch da im Schußfeld der Gewerkschaften, ihr konsequent durchgeführtes Programm trage die Schuld an diesem Übel, das für jedermann fühlbar ist.

Thatchers Prioritäten sind anders gesetzt: erst Bekämpfung der Inflation, darauf Wiedererstarken der britischen Wirtschaft und damit Erholung des angespannten Arbeitsmarktes. Beschränkung der öffentlichen Ausgaben als Mittel die Geldentwertung aufzuhalten heißt unter anderem auch Gesundschrumpfen der Industrie auf die Fähigkeiten und Stärksten, damit Einschränkung der Arbeitsplätze. Die hohen Zinssätze hemmen die Investitionstätigkeit der Unternehmer und machen Berufsstellen überflüssig.

Opposition und Verbände wollen es in der Gegenrichtung: Ausbau des Wohlfahrtsstaates, also mehr Gemeinwesen als notwendig, mehr Injektionen der öffentlichen Hand in die Industrie, der Staat als erster Produzent und Auftraggeber. In der Vergangenheit hat dieses Rezept nie lange Erfolg gehabt, es hat vielmehr die britische Wirtschaft immer tiefer in den Verlustbereich gestoßen.

Dazu kommt die prinzipielle Einstellung der Arbeitervertretungen, die sich am besten mit Schizophrenie bezeichnen läßt. Auf der einen Seite pochen sie auf die Sicherung der Arbeitsplätze, wie es ihrer Aufgabe entspricht. Andererseits marschieren sie mit Lohnforderungen auf, die bald nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Und sind die Forderungen erfüllt, dann kommen sie in völliger Unbekümmertheit mit neuen.

Letzten Endes geht es einfach um Macht, um die Erhaltung und den Ausbau jenes Einflusses, den sich die Gewerkschaften im Laufe der Geschichte geschaffen haben. Tom Boardmann, Arbeitsminister unter Heath, trifft den Kern des Phänomens: „Unsere Gewerkschaften bieten das Beispiel von Macht ohne Verantwortung!"

Ursprünglich lag es den Labourregierungen am Herzen, die Balance der Tarifpartner auszugleichen, die Gewerkschaften mit jenem Gewicht zu versehen, das sie befähigt, auf derselben Ebene wie die Unternehmer zu agieren. Mittlerweile hat diese Stärkungsaktion bewirkt, daß sich die Arbeitgeber einem übermächtigen Gegner gegenübersehen.

Dies mag in der verhängnisvollen Spirale liegen, in der sich die politische Entwicklung Großbritanniens dreht. Was die Tories den Gewerkschaften abringen, das vergilt ihnen die Labourpartei, wieder am Ruder, im Ubermaß. Der geforderte Konsens bleibt auf der Strecke, genau so wie der Dank der Gewerkschaften in Form von Beruhigung.

Nachgiebigkeit ist nicht der Weg, die Verbände zur Räson zu bringen. Die Gewerkschaften legen sich selbst den Entschluß zum Einlenken als Schwäche aus, was bleibt ist der Schlag mit der Faust auf den Tisch und damit Ausstände, die wie Pilze im Frühjahrsregen emporschießen. Schließlich richtet sich dieser Hunger nach Macht auch gegen den natürlichen Protege: siehe Callag-hans Sturz.

In der Öffentlichkeit hingegen ist der Wunsch nach dem friedlichen Ausgleich lebendiger denn je. Österreichs Paritätische Kommission erscheint als Musterbeispiel einer Lösung am Beratungstisch, bleibt allerdings für britische Verhältnisse ein Wunschtraum.

Arbeitsminister Priors neues Gewerkschaftsgesetz bewegt die Delegierten zum Kongreß am meisten. Es ist ein äußerst vorsichtiger und zaghafter Versuch, Auswüchse, anarchisches Ausufern von Streikunruhen einzudämmen, die Gewerkschaften in ihrer Machtfülle zu beschneiden.

Prior kennt seine Pappenheimer, er weiß um die Gefährlichkeit, die Verbände frontal anzugehen. Das hat ihm von, den Falken auf der Regierungsbank den höhnenden Titel „Leisetreter" eingetragen, erscheint aber als die einzige Möglichkeit. Alle anderen Versuche, den Verbänden durch Gesetz Schranken zu setzen, waren im vergangenen Jahrzehnt zum Scheitern verurteilt, blieben wirkungslos.

Die Verbände empfinden es als Zumutung, daß nun die sogenannten fliegenden Streikposten in ihren Aktionen beschnitten werden; deren Immunität gilt nur noch vor den eigenen bestreikten Betrieben.

Ferner zielt das Gesetz darauf ab, die Praxis der „closed shops" zurückzudrängen, wonach Arbeiter Gefahr laufen, auf die Straße gesetzt zu werden, falls sie sich weigern, einer bestimmten Gewerkschaft beizutreten.

Vorderhand sind sich die Verbände selbst nicht einig, wie sie auf die Ermunterung der Regierung zu geheimen Abstimmungen reagieren sollen, zu verdeckter Wahl mit staatlichen Mitteln dort, wo bisher sichtbar nur mit erhobenem Arm votiert worden ist. Die radikalen Bäcker stimmen dafür, jeden Verband auszuschließen, der öffentliche Mittel für Geheimwahlen beansprucht. Der Verband der Hilfsarbeiter hingegen ist bereit, das Anerbieten der Regierung zu akzeptieren.

So eines Sinnes, wie es der Kongreß demonstrieren möchte, sind die britischen Gewerkschaften nun doch nicht. Radikale und Gemäßigte liegen im Streit. Die einsichtigen Führer mögen sich sehr wohl über die Gefahren, die das militante Element in der Bewegung bringt, bewußt sein. Das Fußvolk allein macht nicht immer voll willenlos mit, wenn der Protest angeordnet ist.

Als der 14. Mai zum „Tag der Aktion" erklärt wurde, zum kurzen Generalstreik als Protest gegen die Politik der Regierung, da legte der überwiegende Teil die Arbeit keinesfalls nieder. Was eine Massendemonstration gegen die Konservativen werden sollte, wurde letztlich ein Fehlschlag für die Gewerkschaftsbosse.

Der durchschnittliche Gewerkschafter ist nicht immer bereit, seinen Wunsch nach besserem Lebensstandard von den Verbänden auf deren Weise ausschlachten zu lassen; Einsicht ist gefragt, Verantwortung und konstruktiver Beitrag zum Aufbau einer darniederliegenden Wirtschaft, nicht Selbstgefälligkeit und bornierte Unbe-weglichkeit. Frank Chapple, der Führer der Elektriker-Gewerkschaft, hat den „Tag der Aktion" eine Maßnahme genannt, die „uns einem politischen System näher bringt, welches sich von jenem unterscheidet, das wir jetzt haben."

Wie diese andere Gesellschaftsordnung aussehen könnte, darüber weiß der Ehrengast in Brighton am besten Bescheid: Wladimir Borissow hat im Paradies der Werktätigen versucht, freie Gewerkschaften zu gründen. Dafür wurde er ins Gefängnis geworfen und schließlich des Landes verwiesen.

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