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Machtfaktor und Anwalt des Volkes

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Nicht Person und Amtsführung des amtierenden Staatsoberhauptes sollen hier kritisiert werden. Gegenstand folgender Überlegungen ist die Tatsache, daß viele Menschen vom Präsidenten mehr Einmischung in die politische Praxis wollen.

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Nicht Person und Amtsführung des amtierenden Staatsoberhauptes sollen hier kritisiert werden. Gegenstand folgender Überlegungen ist die Tatsache, daß viele Menschen vom Präsidenten mehr Einmischung in die politische Praxis wollen.

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Der historische Gesetzgeber von 1929 hat den Bundespräsidenten als Machtfaktor und mögliches Gegengewicht gegenüber dem Parlament und der Regierung und nicht bloß als Staatsnotar und Repräsentationsfigur konzipiert.

Unsere Bundesverfassung in der Fassung der Novelle 1929 gibt dem Bundespräsidenten in ihrem Artikel 70 sogar das Recht, die gesamte Bundesregierung und den Bundeskanzler zu entlassen, ohne hiebei an einen Vorschlag gebunden zu sein.

Eine solche Maßnahme ist zweifellos als ultima ratio zur Korrektur eingetretener Fehlentwicklungen gedacht, jedoch ist gerade aus dieser Bestimmung zu schließen, welch maßgebliche Rolle unsere Bundesverfassung dem Bundespräsidenten im Ernst- und Höchstfall einräumt.

Daß der historische Gesetzgeber einen Konflikt des Bundespräsidenten mit dem Parlament oder der Regierung oder mit beiden Organen für möglich, ja wahrscheinlich gehalten hat, geht auch aus der detaillierten Bestimmung des Artikel 60 der Bundesverfassung hervor. Hier werden die Modalitäten geregelt, unter denen der Bundespräsident abgesetzt werden kann.

Eine solche Absetzung ist nur auf Antrag der Bundesversammlung, bzw. nach einem vorhergehenden Antrag des Nationalrates möglich.

Ein solcher Beschluß der Bundesversammlung ist aber einer Volksabstimmung zu unterziehen, die erst die endgültige Entscheidung über das Verbleiben oder die Absetzung des Bundespräsidenten trifft.

Mit dieser Bestimmung ist auch klargestellt, daß der Bundespräsident in erster und letzter Instanz dem Volk verantwortlich ist, das ihn ja auch wählt und zu seiner Amtsausübung legitimiert.

Eine Stärkung der Position des Bundespräsidenten widerspricht daher keineswegs plebiszitären oder fundamentaldemokratischen Tendenzen, sondern ergänzt sie vielmehr in sinnvoller Weise.

So fragwürdig die Motive des historischen Gesetzgebers von 1929, der das Regierungssystem in Österreich, wenigstens auf dem Papier, zu einem gemischt-präsi-dentiellen machte, im übrigen auch sind, die Idee des Bundespräsidenten als eines Anwaltes der Bevölkerung, der sich mit der Bevölkerung gegen die Regierung und das Parlament verbünden kann, ist von einer solchen Pro-blematisierung der generellen Tendenz der Verfassungsnovelle 1929 nicht berührt.

Unter veränderten historischen Vorzeichen könnte diese Idee reaktiviert werden und erneute Aktualität erlangen, wenn sich in Zukunft ein Amtsträger findet, der das Format und den Mut hat, sein Amt auszuschöpfen. Er könnte sich doch an die Grenzen, die die Verfassung zieht und die ziemlich weit gesteckt sind, herantasten.

Voraussetzung für eine solche Amtsauffassung und -ausübung wäre freilich, daß ein Staatsoberhaupt die Situation für fortgeschritten genug hält, um die traditionelle Zurückhaltung, die verfassungsmäßig gedeckt, aber keineswegs erforderlich ist, aufzugeben. An die Stelle sollte eine Amtsführung treten, die den Bundespräsidenten als Machtfaktor ins Spiel bringt und ihm so zu der vom historischen Gesetzgeber eigentlich-gedachten Rolle verhilft.

Ein solcher Anlaß für ein verstärktes Engagement des Bundespräsidenten könnte in Zukunft die wachsende Kluft und Entfremdung zwischen Bevölkerung und Parteien sein. Die Parteien haben die Verfassungsnormen und -bestimmungen durch ihren Zugriff vielfach mediatisiert und stillschweigend außer Kraft gesetzt.

Es könnte nicht schaden, wenn die Parteien ihrerseits eine Me-diatisierung und Zurechtstutzung durch die Bevölkerung und den Bundespräsidenten erfahren würden, ohne damit in ihrer prinzipiellen Bedeutung für die Demokratie in Frage gestellt zu werden.

Ein Punkt, an dem sich der Unmut weiter Kreise entzündet, ist die in manchen Bereichen zügellose Parteibuchwirtschaft, gegen die vor allem die FPÖ zu Felde zog, solange sie noch nicht Gelegenheit hatte, an den Annehmlichkeiten der Macht mitzuna-schen.

Wenn z. B. ein Spitzenpolitiker wie der jetzige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk ganz offen aussprach, daß ihn das System der Vergabe von Lehrerposten anwidere, so ist das ein Zeichen dafür, daß die Unzufriedenheit mit den Auswüchsen des Parteiensystems in die Kreise der Macht selbst Eingang gefunden hat. Die Unzufriedenheit ist nicht mehr bloß ein Privilegium odiosum der Ohnmächtigen.

Gerade ein Bundespräsident, der keiner Partei angehört, sollte sich zum Anwalt und Kurator der zwar nicht voll, aber sehr wohl beschränkt entmündigten Staatsbürger machen. Durch die herrschende Praxis werden Parteilose um das verfassungsgemäß garantierte Recht auf gleiche Zugänglichkeit aller Ämter für alle Staatsbürger gebracht und zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert, nur weil sie von dem ihnen zustehenden Recht Gebrauch machen, sich nicht — wie man so schön sagt — „zu deklarieren".

Aber auch ein Bundespräsident, der aus einer Partei kommt und von ihr nominiert wird, könnte sich durch seine Wahl legitimiert fühlen, als Anwalt aller Staatsbürger aufzutreten und Erwartungen seiner Parteifreunde zu enttäuschen.

Der Bundespräsident könnte und sollte aber nicht nur in dieser Frage Anwalt und Kurator der Bevölkerung sein. Er könnte auch in anderen Sachfragen, wie der Umweltfrage, in denen er die Bevölkerung hinter sich weiß, seine moralische Autorität in die Waagschale werfen und es darauf ankommen lassen, ob sich die Repräsentanten der Parteien gegen eine solche Allianz durchzugreifen und ihren abweichenden Willen durchzusetzen getrauen.

Auch in dieser Beziehung bedürfte es des Versuches, da bekanntlich nichts besser die Möglichkeit eines Vorgehens beweist als dessen Wirklichkeit und Wirksamkeit.

Der Bundespräsident könnte und sollte aber auch in anderen Bereichen initiativ werden, nicht nur als Anwalt der Bevölkerung, sondern auch als „Hüter der Verfassung". Er sollte zur Ersatzvornahme bzw. Einmahnung vernachlässigter Verpflichtungen schreiten, wo die Verfassung selbst lückenhaft ist oder die Verfassung durch soziologische Vorgänge und Machtballungen ihre reale Bedeutung verliert.

So könnte der Bundespräsident seine Stimme erheben, ohne ein formelles Weisungsrecht in Anspruch zu nehmen, wenn ein Ressortchef, was gelegentlich vorkommen soll, Beanstandungen durch den Rechnungshof unbeachtet läßt und die Kontrollmechanismen, die keine Sanktionsgewalt zur Durchsetzung ihrer Kritik haben, offenbar nicht greifen und ausreichen.

Eine solche Aufwertung der Rolle des Bundespräsidenten müßte und dürfte durchaus nicht zu einer Unterdrückung der Parteiendemokratie, zu der es nach wie vor keine sinnvolle Alternative gibt, führen. Sie könnte vielmehr dazu beitragen, diese Form der Demokratie, die wir im Prinzip erhalten sehen wollen, vor weiterem Schaden und vor möglicher Entartung zu bewahren.

In einer Zeit rapider Veränderungen ist es bestimmt nicht verfehlt, auch die Möglichkeit der veränderten Auffassung von der Rolle des Bundespräsidenten in Erwägung zu ziehen, ja als wünschenswerte Möglichkeit zu Bewußtsein zu bringen. Es bedarf ja in diesem Falle gar keiner Verfassungsänderung, sondern nur einer verstärkten Besinnung auf die in der Verfassung angelegten, aber bisher viel zu wenig ausgenützten Gestaltungsmöglichkeiten.

Der Autor ist Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien.

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