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Machtmime im Kreml

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Italienische Zeitungen nennen ihn sogar „Rußlands John Kennedy“. Der Medienkult um den neuen KPdSU-Chef Michail Gorbatschow wird in Ost und West gepflegt.

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Italienische Zeitungen nennen ihn sogar „Rußlands John Kennedy“. Der Medienkult um den neuen KPdSU-Chef Michail Gorbatschow wird in Ost und West gepflegt.

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Der Welt, von der geredet wird, als ob es sie gäbe, war von den Meinungsmachern auferlegt, den Atem anzuhalten, als ein Jungfünfziger — nach den bedrückenden Agonien seiner drei Vorgänger — auf den Stuhl des zweit-v mächtigsten Mannes eben dieser „Welt“ gehievt wurde. Bereitwillig wurden fast allseits die höchsten Erwartungen geweckt. Das Treffen Michail Gorbatschows mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan in Genf im vergangenen November ist denn auch so kommentiert worden, als würde es die eilig entzündeten Freudenfeuer munter weiterbrennen lassen. Waren doch genug vernüftig klingende Interessen oder gar Sach-zwänge in das Treffen und in die Äußerungen der beiden Männer hineinzulegen.

Zum zweiten Mal in kurzer Zeit sollte die fiktive Weltgemeinschaft der Völker im Februar 1986 den Atem anhalten, um so den ersten Parteitag des neuen Bogatyr' (Herkules, Jung-Siegfried) im Kreml und seiner Reckenschar gebührend aufzunehmen und zu würdigen. Der Kult um Gorbatschow ist — vor allem in den West-Medien — damit zwar etabliert, der Weihrauch um seinen Wortzauber reichlich geschwungen worden, es hat sich aber doch auch schon als nötig erwiesen, der Mythenbildung um den neuen Heldenmimen — denn mehr an Substanz ist da nicht - stützende Erklärungen und Entschuldigungen nachzuschicken. Zwar wird er von der KP Italiens als Rußlands John Kennedy angepriesen (um das eigene Zurückrutschen nach Moskau plausibel erscheinen zu lassen), ein in vielfacher Hinsicht allerdings delikater Vergleich; an Hilfsparolen wird aber auch schon ausgegeben, daß ein Mehr an Erneuerung im Führungsgremium der KPdSU vorerst nicht durchzusetzen gewesen sei, die „Konservativen“ um Gorbatschow und eigentlich so recht die Amerikaner und die Israeli ihn hinderten, den lästig-störenden Fall Andrej Sacharow per Abschiebung in den Westen zu bereinigen und mit seinen so viel gewichtigeren rüstungstechnischen Vorschlägen voranzukommen.

Alle guten Worte für den neuen Hoffnungsträger. Die verbale Schutzmauer um den neuen Saubermann des sowjetischen Realsozialismus wächst in die Höhe.

Es müßte aber kein Geheimnis sein, wie sehr Gorbatschow und seine Mannen an die immanenten Zwänge ihres unverrückbaren Herrschaftssystems gebunden sind. Der gewaltige Flop des angeblich die Welt von morgen gebärenden 27. Parteitags der KPdSU hätte das nicht nur in personeller Hinsicht deutlich genug vor Augen führen müssen. Das Gerangel um Reagans „Strategie Defence Initiative“ (SDI) und die übrige rüstungstechnische Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion zieht die Aufmerksamkeit so sehr auf sich, daß das Stagnieren der Außenpolitik des Kremls und seine Mißerfolge in den Problembereichen Afghanistan, China, Japan oder Südjemen ebenso fast unbemerkt und ungewichtet bleiben wie das Manko einer Europa-, im konkreten einer Deutschlandpolitik. Ein Besuch in Bonn und Anti-US-Politik ist nämlich weder das eine noch das andere.

Die Restaurierung ehemaliger Superministerien im Innern wird so wenig bewirken wie die Neuin-stitutionierung der Bindungen im verbliebenen Ostblock, um sich damit die Zwangsverbündeten profitabler gefügig zu machen. Denn das entsprechende Vertragsnetz und Institutioneninstrumentarium ist schon vollauf vorhanden, nur funktioniert es aus Marxisten und Machthegemonen unverständlichen, nämlich widerborstig eigengewichtigen Gegebenheiten in Polen oder Ungarn nicht.

Was verbal herbeigezaubert werden soll und somit (verlorene) westliche „Entwicklungs“-, sprich Uberlebenshilfe für die staatssozialistischen Regime zu erbringen hat, was künftige Erfolge, Fortschritt, „sozialistische Errungenschaften“ und die Überlegenheit des Realsozialismus über alle anderen Gesellschaftsordnungen suggerieren soll, kommt jedoch immer wieder deshalb nicht zustande, weil nichts so sehr der angestrebten Erneuerung im Wege steht wie das sowjetische Herrschaftssystem und seine Nachbildung selbst. Good-bye, Karl Marx, tönte 1970 der Titel der deutschen Ubersetzung eines der Bücher des scharfsinnigen Charles Northcote Parkinson. You are welcome, Mr. Gorbatschow!

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