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Machtspiel wird weitergehen

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Die Verwirrung um das Referendum in Rußland am kommenden Sonntag, 25. April, ist groß - und hält bis wenige Tage vorher an. Ob der russische Stimmbürger den Mehrfachknoten entwirren kann, ist mehr als fraglich. Denn eine entscheidende Rolle spielt bei dieser Volksbefragung nicht nur die Stimme, sondern das Schweigen; und in der Folge, wie man dieses Schweigen interpretiert.

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Die Verwirrung um das Referendum in Rußland am kommenden Sonntag, 25. April, ist groß - und hält bis wenige Tage vorher an. Ob der russische Stimmbürger den Mehrfachknoten entwirren kann, ist mehr als fraglich. Denn eine entscheidende Rolle spielt bei dieser Volksbefragung nicht nur die Stimme, sondern das Schweigen; und in der Folge, wie man dieses Schweigen interpretiert.

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Das Schicksal des demokratischen Rußland steht auf dem Spiel - und doch wieder nicht. Der Hintertüren gibt es viele. So ungewiß wie die politische Lage, so offen sind bis zuletzt die Fragen, die den Russen am Sonntag vorgelegt werden sollen. Bis Redaktionsschluß - vier Tage vor dem Gang zur Urne! -war nicht klar, welche der vier Fragen der russische Verfassungsgerichtshof zulassen, welche er streichen oder ergänzen werde.

Mit Dienstag, 20. April, lagen folgende vier Fragen vor, die die Russen beantworten sollen:

□ Schenken Sie dem Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, Vertrauen?

□ Stimmen Sie der sozialökonomischen Politik zu, die vom Präsidenten der Russischen Föderation und in der Gesetzgebung der Russischen Föderation von 1992 beschlossen wurde?

□ Ist es Ihrer Meinung nach notwendig, Wahlen des Präsidenten der Russischen Föderation durchzuführen?

□ Halten Sie die Durchführung von Wahlen der nationalen Abgeordneten der Russischen Föderation für notwendig?

Jede Frage steht auf einem eigenen Wahlzettel und muß mit Ja oder Nein beantwortet werden, wobei - erster immanenter Unsicher-heitsfaktor, was den Ausgang des Referendums betrifft - immer das Nichtgemeinte gestrichen werden muß. Will also jemand Ja sagen, muß er das Nein durchstreichen. Die Präferenz einzukreisen ist unzulässig.

Der zweite Unsicherheitsfaktor betrifft jene Hürde, die der Kongreß der Volksdeputierten - in der westlichen, sehr vereinfachenden Lesart jene politische Körperschaft, die gegen Jelzin kämpft - eingebaut hat: Die Zustimmung zu den Fragen ist dann gegeben, wenn nicht bloß die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht wurde, sondern wenn es sich dabei auch um 50 Prozent plus eine Stimme der Wahlberechtigten (wahlberechtigt sind 106 Millionen „Russen") handelt.

Jelzin möchte erreichen, daß diese - wie er sagte - „himmelschreiende Verletzung der Verfassung und des Gesetzes über das Referendum" vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wird, sonst werde er ein Dekret dagegen veröffentlichen, was nur soviel heißen kann, daß er sich selbst ein Hintertürl offenhält. Hatte er doch angekündigt, im Falle einer Niederlage - nach den Bedingungen des Kongresses - zurückzutreten. Jetzt schaut's so aus, als ob Jelzin selbst definieren möchte, was Sieg oder Niederlage ist. Der sinnlose Machtkampf in Rußland könnte also trotz Referendum so weitergehen wie bisher. Die „Neue Zürcher Zeitung" vom vergangenen Samstag hat es auf den Punkt gebracht: „(Jelzin) will eigenes Recht setzen und nimmt damit in Kauf, daß er mit seinem Vorgehen das rechtliche Chaos noch vertieft. Politisch gesehen ist das verständlich - mit einer Einschränkung. Wenn der Präsident nicht mehr bereit ist, die Arbeit der Legislative zu honorieren, müßte er diese eigentlich auflösen. Doch auf dieses Kräftemessen will (oder kann) er es offenbar noch nicht ankommen lassen. Damit wird eine Konfrontation, die unvermeidlich ist, weiter hinausgezögert und die schleichende Anarchie gefördert."

Der Sowjetologe und Rußlandexperte Michael Voslenski sieht das Vorgehen des russischen Parlaments als „große Frechheit" an. Gegenüber der FURCHE hat er darauf hingewiesen, daß die Intention des Volkskongresses auch mit den Fragen nach Neuwahlen (des Präsidenten und des Parlaments) auf eine stillschweigende Beschneidung der Amtszeit Jelzins, der bis 1996 gewählt ist, hinausläuft. Der Volkskongreß ist nach dem alten sowjetischen Wahlmodell bis 1995 „gewählt".

Voslenski gibt zu, daß Jelzin in westlicher Sicht vielleicht wirklich kein lOOprozentiger Demokrat, aber unter den jetzigen Verhältnissen in Rußland noch immer der demokratischeste Politiker sei, weshalb eine Niederlage Jelzins eine Katastrophe oder zumindest ein Rückschlag für den Umgestaltungsprozeß wäre. Aber nach den Referendumbestimmungen müßte Jelzin - so rechnet Voslenski vor - bei einer Wahlbeteiligung von etwa 80 Prozent über 70 Prozent der Stimmen erhalten, fast ein Ding der Unmöglichkeit.

Deswegen kämpft Jelzin momentan landauf, landab mit Wahlzuckerln, die er - so Beobachter - kaum wird verteilen können. Das Um und Auf der Bürger Rußlands sind heute die Lebensbedingungen. Nach Voslenski haben die Leute nichts gegen die Privatwirtschaft, nur wollen sie endlich die Früchte davon sehen - „und die sind bisher nicht greifbar". Rußland befindet sich nach Voslenski in jenem Stadium, das Polen bereits erfolgreich hinter sich gebracht hat: Höchstpreise erschweren das Leben ungemein. Man müßte erreichen - so der Rußlandexperte -, daß das Warenangebot so groß wird, daß die , Preise nach unten gehen. „Aber Rußland ist kein überschaubares Land wie Polen, sondern ein ganzer Kontinent - und damit haben die Probleme auch kontinentale Ausmaße."

Das Schreckensszenario, daß nach einer Niederlage Jelzins am kommenden Sonntag die alte Garde, die Bürokraten der kommunistischen Nomenklatura wieder entscheidend das Sagen haben wird, sei zwar real - so Voslenski -, aber auch bei einem Untergang des Präsidenten nicht unabwendbar. Denn da gebe es noch die jungen Intellektuellen - beispielsweise Außenminister Alexander Kosyrew oder Viktor Gaidar - die Jelzin sehr wohl ersetzen könnten. Positiv an ihnen sei, daß sie gut gebildete Intellektuelle sind. Negativ, daß sie nur das privilegierte Leben der Nomenklatura kennen und kaum mit dem Leben des Volkes konfrontiert wurden. Trotzdem ist von diesen „ehemaligen kommunistischen Aristokraten" (Voslenski), die keine eingefleischen Bürokraten sind, positive Arbeit für die demokratische Zukunft Rußlands zu erwarten.

Mit dem Referendum am Sonntag ist die Übergangsphase, in der sich Rußland befindet, beileibe noch nicht abgeschlossen. Die Frage, wie weit der Demokratisierungsprozeß vorangetrieben und der Weg der marktwirtschaftlichen Umgestaltung gegangen werden soll, könnte sich einigermaßen klären. Bei einer geringen Beteiligung am Referendum wird es darum gehen, das Schweigen der Russen zu interpretieren und damit Politik zu machen.

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