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Machtvoller „Zug zur Mitte“

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In einem Land wie Polen, das seit fast einem Jahr durch außerordentliche Ereignisse geprägt ist, ist ein außerordentlicher Parteikongreß nichts Außerordentliches. Diese pointierte Formulierung des radikal reformwilligen polnischen Journalistenpräsidenten Stefan Bratkowski ist, nach dem Ende des 9. Parteitages der „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“ in Warschau, ebenso bestätigt wie widerlegt - und paßt somit vollendet in die an Paradoxien und Widersprüchen so reiche Entwicklung im Land an der Weichsel.

Außerordentlich war an diesem Parteikongreß tatsächlich vieles:

• Zum erstenmal war dieses formell höchste Forum einer kommunistischen Partei in freien, gqjieimen und demokratischen Wahlen gekürt worden.

• Zum ersten Mal in der Geschichte des Ostblocks wurden von diesem Mammutgremium in ebenso unzweifelhaft demokratischen Wahlen die bis zum nächsten Parteikongreß im Amt befindlichen wichtigsten Organe gewählt - das Zentralkomitee sowie die Kontroll- und Revisionskommission der Partei.

O Zum erstenmal wurde auch der erste Sekretär einer KP nicht vom Zentralkomitee, sondern wirklich vom „Souverän“, den Parteitagsdelegierten, in geheimen, demokratischen Wahlen bestimmt und es gab wenigstens einen, wenn auch chancenlosen, Gegenkandidaten. Das bedeutet innerparteiliche Legitimität.

• Zum ersten Mal schließlich zeigten die Diskussionen am Parteitag ein breites Spektrum an Meinungen und so etwas wie politischen Pluralismus, der weit entfernt war vom „Fraktionismus“.

Außerordentlich waren - über diese prozeduralen und „stilistischen" Neuerungen hinaus - in gewisser Weise auch die Ergebnisse des außerordentlichen Parteitages in Warschau.

• Es erfolgte eine tiefgreifende personelle Umschichtung in der polnischen KP, die praktisch nur die oberste Spitze - durchaus im Sinne einer geopolitisch, aber auch partei-organisatorisch notwendigen Kontinuität - unverändert beließ. Kania, Jaruzelski, Barcikowksi und Olszowski, die Prominenz an politisch Überlebenden dieser Umschichtung- sind die Schlußsteine einer weitgehend aus unbekannten Quadern errichteten neuen Parteipyramide. Mit vollem Recht nannte der Chefredakteur der Gewerkschaftswochenschrift „Solidarnošč“, Tadeusz Mazowiecki,’ diesen Vorgang eine „Revolution“ in der Partei.

• Die personelle Umschichtung brachte aber auch eine zum Teil sehr erhebliche personelle Verschränkung mit der anderen Kraft im Staate - der Gewerkschaft „Solidarität“: Rund 20 Prozent der Mitglieder des neuen ZK sind ja sowohl bei der unabhängigen Gewerkschaft als auch in der KP. Die Tragweite dessen und die praktische Auswirkung ist noch gar nicht abzusehen.

So außerordentlich also vieles an diesem polnischen Parteitag war, so wenig Grund besteht deswegen in eine allzu oberflächliche Euphorie und einen sen- sationalistischen Schlagworttaumel zu verfallen, wie dies in großen Teilen der westlichen Presse der Fall war.

Der „Demokratisierungsprozeß“ in Polen ist einerseits nämlich noch unvollständig, birgt andererseits aber auch unübersehbare Gefahren.

Zunächst zum Unvollständigen: Die Hauptfragen der Parteipolitik bleiben weiterhin einem relativ kleinen Gremium überlassen, eine „Urabstimmung“ oder ein Parteireferendum, also „ die demokratische Einbeziehung der Basis während der Amtszeit der gewählten Organe, ist zwar vorgeschlagen worden, wurde aber nicht angenommen.

Es ist institutionell keineswegs abge

sichert, daß die „führende Rolle“ der’ Partei durch die Mitglieder der Grundorganisationen verwirklicht wird und nicht, wie bisher, durch Befehle des Apparates und der Parteileitung nach unten und in Staat, Verwaltung, Justiz- und Wirtschaftswesen hinein. Gerade das aber war einer der Hauptgründe für die politischen Deformationen der Gierek- Ära.

Die Gefahren der „Demokratisierung“ haben sich vor Beginn und durch den Verlauf des Parteitages ebenfalls deutlich gezeigt.

• Es droht ein parteilicher Föderalismus und regionaler Isolationismus, weil die vor dem Kongreß demokratisch gewählten Parteisekretäre der

Woiwodschaften völlig unzureichend im neuen ZK vertreten sind. Eine Zersplitterung oder zumindest die Entstehung von Parallelstrukturen (Zentralmacht und Regionalmacht) mit all den verheerenden Konsequenzen ist nun durchaus im Bereich des Möglichen.

• Die demokratischen Wahlen zum Parteikongreß und am Parteitag selbst haben erkennen lassen, daß Engagement, Profilierung und Exponierung (im positiven wie im negativen Sinn) eher hinderlich sind, um sich durchzusetzen. Der machtvolle „Zug zur Mitte“, weg von den Flügeln und Extremen, bedeutet nämlich gleichzeitig auch Nivellierung und Anpassung. Pro

filierte Positionen haben aber doch - politologisch betrachtet - eine wichtige Funktion im Kräfteparallelogramm einer demokratischen Partei.

Daß die polnische KP etwa den Dan- ziger Parteichef Fiszbach praktisch verloren hat, (er wurde nichts ins ZK gewählt) ist ein besonders eklatantes Beispiel. Der „progressive“ Flügelmann Fiszbach und seine Ideen können nun nicht mehr befruchtend wirken.

Die größte Gefahr für das Experiment .der Demokratisierung in Polen, die freilich - und auch das muß man mit aller Schärfe aussprechen - nur eine Partei erfaßt hat, die sich ihre führende Rolle sei 35 Jahren ursurpatorisch angemaßt und nicht durch Volkswahlen hat bestätigen lassen - liegt woanders:

Dem außerordentlichen Parteitag ist es nicht gelungen, eine konkrete, radikale Wirtschaftsreform zu entwerfen, ein klares Bekenntnis zu Marktmechanismen im großen Rahmen einer zentralen Planwirtschaft abzulegen, die echte Selbständigkeit der Betriebe mit differenzierten Eigentumsformen (Gruppeneigentum, Arbeiterselbstverwaltung usw.) zu gestatten. Was Premier Jaruzelski ankündigte, war zu diffus.

Es ist überhaupt keine Frage, daß die von Tag zu Tag sich verschlechternde Wirtschafts- und Versorgungslage in Polen allen Versuchen einer politischen Stabilisierung, einer geopolitisch orientierten Reform und weiterer, vorsichtiger Demokratisierung schon sehr bald den Boden entziehen kann.

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