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Märtyrer unserer Tage

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Eine ökumenisch zusammengesetzte Gruppe von Christen gründete im Sommer 1975 „Christian Solidarity International" (CSI) - ihr Ziel: Durchsetzung der Glaubensfreiheit.

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Eine ökumenisch zusammengesetzte Gruppe von Christen gründete im Sommer 1975 „Christian Solidarity International" (CSI) - ihr Ziel: Durchsetzung der Glaubensfreiheit.

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Vor Jahren hat CSI, eine Hilfsorganisation für verfolgte Christen, eine Weltkarte besonderer Art verteilt: Jedes Land, in dem Christen verfolgt werden, ist durch ein großes schwarzes Kreuz gekennzeichnet. Viele Leute bleiben in unserem Vorzimmer betroffen vor der Karte stehen: Ist es möglich, daß Verfolgungen weltweit so verbreitet sind?

Leider stimmt es. Ein Beispiel aus Asien — Vietnam: Nguyen van Thuan, Erzbischof-Koadjutor von Saigon wird im August 1976 plötzlich verhaftet. Er verschwindet in ein „Umerziehungslager". Im Mai 1978 wird er freigelassen, um in der Nähe von Hanoi unter Hausarrest zu leben. Ein halbes Jahr später - neuerliche Verhaftung. Seither ist der Erzbischof verschwunden. Man hatte ihn niemals vor Gericht gestellt.

Carmelita Santos, Katechetin aus Guatemala, berichtet, was sie in einem Dorf erlebt hat. Sie arbeitet mit einfachen Bauern, die mit der Heiligen Schrift umzugehen lernen und die erfahren, wie ernst Gott sie als Person nimmt. Dieses Selbstbewußtsein paßt den Machthabern nicht. Am 19.

April 1982 locken anrückende Regierungstruppen die in Verstecke geflüchtete Bevölkerung in ihren Ort zurück. Den Kindern wird Spielzeug, den Kranken Hilfe, allen Nahrung versprochen. Kaum zurückgekehrt, werden die Alphabetisierten ausgesondert und in der Kapelle bestialisch ermordet. Die Leichen dürfen nicht bestattet werden.

14. März 1984: Walerij Mart-schenko, 37 Jahre alt, wird in Kiew wegen subversiver Tätigkeit zur Höchststrafe von zehn Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Während seiner ersten Haftzeit (1973-1979) war er Christ geworden. Man wirft ihm jetzt vor, damals Briefe ins Ausland geschmuggelt zu haben. Er ist sterbenskrank, „erfolgreich" von einem Untersuchungsrichter präpariert, der auch schon den Dichter Helij Snehirjow am Gewissen hat.

Eigenartig — auch was die Christenverfolgungen anbelangt, ist dieses Jahrhundert eine Zeit der Rekorde. Niemals wurden mehr Christen verfolgt.

Warum berührt uns, die wir behaglich im Schutz der gesicherten Religionsfreiheit leben, das Schicksal dieser Menschen so wenig? Warum wird in den Kirchen so wenig von den heutigen Märtyrern gesprochen? Sind wir von den zahllosen Berichten von Greueltaten abgestumpft? Geht uns das Leid in fernen Ländern überhaupt etwas an?

Ich meine schon. Die Erfahrung unserer verfolgten Brüder und

Schwestern zeigt, wie leicht man mit den Mächtigen in Konflikt gerät. In Lateinamerika etwa: Da werden Christen verfolgt von Regimen, die sich einen demokratischen Anstrich geben und die auch gar nichts gegen die Kirche haben - allerdings nur, solange sie nicht ernst macht mit ihrem Glauben, solange sie Privilegien nicht in Frage stellt.

Sollten wir uns nicht die Frage eines in Rumänien Verfolgten gefallen lassen: „Warum werdet Ihr im Westen eigentlich nicht verfolgt?" Vielleicht, weil wir zu harmlos sind.

Bei uns ist ja auch nicht alles zum Besten. Pornographie und Darstellung scheußlichster Brutalität (jetzt dank Video billig im eigenen Heim) zerstören die Seelen der Jugend. Abtreibung kostet Zehntausende Kinder jährlich das Leben. In unserer materialistischen Gier zerstören wir die Natur rund um uns. Wo bleibt da das prophetische Wort der Christen? Die Märtyrer unserer Tage mahnen uns, daß das Evangelium keine bequeme Botschaft ist, daß der Weg des Widerspruchs ein Leidensweg ist, auf dem man nicht unbedingt gesellschaftliche Anerkennung und Lorbeeren erntet.

Wenn ich die Dinge nur von dieser Warte betrachte, schrecke ich zurück. Aber Leiden, Entsagungen und Tod sind nur die eine Seite der Verfolgung. Das Zeugnis der Verfolgten macht uns auch klar, daß die Erfahrung von Freude und tiefem Frieden ebenso zu diesem Weg gehören.

So sagte etwa der russische Baptist Michail Chorew vor Gericht: „Ich wähle dies alles aus freiem Willen, weil ich niemals den Herrn verraten möchte. Und wenn mein Prozeß meinem Herrn mehr Ehre bringt als mein Leben und mein Dienst in der Kirche, dann freue ich mich über die heutige Verhandlung und danke Gott."

Und ähnlich die Litauerin Nijo-le Sadunaite: „Mir wurde ein beneidenswertes Schicksal zuteil, eine glorreiche Zukunft: Nicht nur für die Menschenrechte zu kämpfen, sondern sogar deswegen verurteilt zu werden! Wie soll man sich nicht freuen, da der allmächtige Gott versprochen hat, daß das Licht die Finsternis besiegen wird..." Menschen, die Gott eigentlich mit lauten Klagen überhäufen müßten, loben ihn.

In einer Untersuchung der Berichte von Menschen, die unter extremen Verfolgungen jahrelang in sowjetischen Gefängnissen gelebt haben, zeigt Mihajlo Mihajlov die tiefen Wurzeln dieses scheinbaren Widerspruchs auf. Es bleibt Mensch, wer alles auf eine Karte setzt und nur auf die Stimme Gottes in seinem Herzen hört. Dann macht der Mensch die Erfahrung, daß Bedrängnis und höchste Freiheit nebeneinander existieren.

Wer sich ganz Gott in die Hand gibt, erfährt, daß die Verheißungen des Evangeliums empirisch wahr werden: „Selig die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit, denn ihrer ist das Himmelreich."

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