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Magdalena aber blieb dort…

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Es war nach der nennten Stunde, als Maria, seine Mutter, Juan, sein Freund, und Magdalena, die früher eine Dirne gewesen war, in den Hafenschenken, an den Ort kamen, wo die Soldaten ihn gemeinsam mit zwei anderen hingerichtet hatten. Und sie fanden die Leichen, mit ausgedrehten Gelenken, vornübergesunken in den Fesseln an den Holzpfählen hängend, an die man sie vor der Erschießung gebunden hatte. Maria wurde von einer Ohnmacht niedergeworfen, aber Juan und Magdalena banden sie alle drei aus ihren Stricken los, schaufelten eine Grube, wickelten jeden in ein Tuch, legten sie in das Grab und wälzten darüber einige Steine.

Als er vor drei Jahren, gerade vom Seminar heraus, in die nördlichen Provinzen gesandt ward, den Landarbeitern die Frohe Botschaft zu verkünden, da kam er in Gegenden, wo zwei Jahre und länger schon kein Priester gewesen war. Und er taufte die Kinder, die sie ihm dazu brachten, er segnete Ehen, die schon lange bestanden, und er half die Toten begraben, wenn sie ihn darum baten. Und siehe, die Gutsbesitzer, denen vier Fünfteile des Landes gehörten, nahmen ihn wohl auf und gaben ihm Speise und Trank, denn er predigte denen, die ihnen dienten, vom Himmelreich.

Aber wenn er ihnen dieses predigte, da erblickte er unter den abgehärmten Gesichtern viele, die mürrisch und verbittert waren. Und er wurde traurig, denn er sah ein, daß die Arbeiter sosehr an allem Lebensnotwendigen Mangel litten, daß sie die Armut im Geiste nicht zu verstehen vermochten, daß nie die Sanftmütigen, sondern immer nur die Hartherzigen das Land besitzen würden, daß die Trauernden durch nichts getröstet werden konnten, daß die, die Hunger und Durst hatten nach der Gerechtigkeit, nie gesättigt würden und daß die Friedensstifter die Kindschaft Gottes dergestalt erlangten, daß man sie mordete. Denn als einer, den die,Arbeiter zu ihrem Vertrauensmann bestimmt hatten, des Nachts im geheimen zu ihm kam und ihn um Fürsprache beim Besitzer des Gutes anflehte, daß dieser doch Barmherzigkeit üben solle, siehe, da wurde dieser Mann am nächsten Morgen von den Knechten des Besitzers, die ihn belauscht hatten, erschossen.

Und da zog er bitteren Herzens aus dieser Gegend fort, und seine Vorsteher sandten ihn in die Hafenstadt, und er suchte die Armen auf in jenen Vorstädten, die man Favelas nannte, um ihnen die Liebe Gottes zu verkünden. Und er tat viele Werke der Nächstenliebe, indem er die reichen Prasser um milde Gaben bat und diese unter den Armen verteilte. Aber bald begriff er, daß er mit Almosen das Los der Armen nicht zu ändern vermochte, denn die reichen Prasser sahen in jenen nicht ihre Brüder, sondern vielmehr ihre Sklaven und Knechte, die sie gönnerhaft beschenkten. Wenn aber die Armen gegen die Gewalt der Reichen und der Herrschenden, die sie in dauernder Armut zu halten versuchten, ihre Stimme erhoben oder selbst zur Gewalt griffen, dann sandten die Regierenden ihre Schergen und Soldaten aus, und diese töteten die Armen, die Wortführer aber wurden gefoltert.

Und siehe, die Unterdrücker und die Unterdrückten, die Verfolger und die Verfolgten, die Folterer und die Gefolterten beteten zu demselben Gott. Da begriff er, daß jener Gott, auf den sich die Unterdrücker beriefen, der wahre nicht sein konnte, denn diese liebten nicht ihre Nächsten, sondern ihr Geld, ihre Macht und die Gewalt, die diese Macht erhielt. Gott aber wird im Nächsten erkannt.

Und als er einmal die Worte des Gottessohnes den Armen verkündete: „Leistet dem Bösen keinen Widerstand! Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin, und will dir jemand deinen Rock nehmen, so laß ihm auch den Mantel!“, da ent- gegneten sie ihm, daß man sie seit Jahrhunderten von vornherein unausgesetzt nicht nur auf beide Wangen schlüge, sondern geißelte, daß sie nie einen Rock und nie einen Mantel besessen und nie die Möglichkeit bekommen hätten, sich einen Rock zu erwerben, daß man ihnen immer nur Lumpen, und diese nur als Almosen, zugeworfen habe. Und da begann er am guten Willen der Herrschenden zu zweifeln, uro so mehr, als diese den Namen Gottes unablässig im Munde führten.

Aber er verband sich dennoch nicht mit den Anführern der Armen, die von den Reichen mit dem Namen Räuber verleumdet wurden, denn er wollte noch einmal versuchen, die Herrschenden und die Vorsteher zu überzeugen, daß die Landlosen Land erhalten, die Analphabeten lesen und schreiben lernen und Krankenhäuser, Wohnungen und Wasserleitungen gebaut werden müßten. „Gebt uns, um was wir bitten, heute, denn es könnte sein, daß sonst Gewalt kommt und kein Stein auf dem andern bleibt von all dem, was heute wohlgefügt erscheint!“ Aber sie verlachten ihn, und einer der Vorsteher sagte: „Siehe, wir brauchen unsere Güter und unsere Gelder, wir bauen darum prunkvolle Häuser, das sind dann die wahren Paläste der Armen, in diesen genießen sie Augenblicke des Glücks und der Schönheit!“ Bei diesen Worten fielen ihm die Hütten aus Lehm und Wellblech und Pappe und die Kinder mit den aufgetriebenen Bäuchen ein, die nur von gesalzenen Kürbis- schalen lebten, die sie auf offenen Feuern rösteten…

Und da bat er sie, wenigstens Gnade mit den Gefangenen zu üben, die schon anderthalb Jahre in Fußfesseln lagen, an Eisenstangen gekettet, zu fünfzehn in einem Kerkerloch, monatelang nicht an Luft und Licht geführt, nur herausgeholt zur Folter oder zur Hinrichtung. Aber sie zuckten nur mit den Achseln.

Da er also sah, daß es vergeblich war, sie zu bitten, trat er öffentlich gegen sie auf und rief: „Sehet die Reichen, die Herrschenden und die Mächtigen! Sie kleiden sich in Purpur und feine Leinwand und halten alle Tage glänzende Gelage. Ihre Ländereien, Fabriken, Ölquellen und Bergwerke, ihre Aktien und ihr Geld sind ihre Macht, denn damit können sie Knechte dingen, die mit ihren Waffen uns das vorenthalten, was uns zusteht, um ein Ebenbild Gottes zu sein!“

Und abermals predigte er: „Sehet, wie sie uns von ihrer Höhe herab belehren! Richtet euch aber nicht nach ihren Worten. Denn sie handeln anders als sie lehren. Unerträglich schwere Lasten legen sie den Menschen auf ihre Schultern, sie selbst aber wollen keinen Finger heben. Sie haben gern die Ehrenplätze bei den Festmälern, sie wollen auf den öffentlichen Plätzen gegrüßt und von den Leuten Meister genannt werden. Euch aber, meinen Freunden, sage ich: fürchtet nicht jene, die den Leib töten können, aber weiter nichts vermögen!“

Als aber jene Worte den Herrschenden hinterbracht wurden, glaubten sie, dies als Aufforderung zum Aufstand verstehen zu müssen. Und von jenem Tag an waren sie entschlossen, ihn zu töten.

Die Anführer der Armen hingegen hatten erwartet, daß er sich offen an ihre Spitze stellen und damit das Signal zum Aufstand geben würde. Als er aber dies nicht getan und der Zeitpunkt, den sie für den günstigsten für die Erhebung gehalten hatten, vorbei war, siehe da verriet ihn einer der Radikalen an die Machthaber. Und diese ließen ihn verhaften, verurteilten ihn wegen Verführung des Volkes und ließen ihn mit zwei Räubern zusammen töten. „Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich“, sagte Juan, als sie die Steine über das Grab gewälzt hatten. Hierauf brachte er seine Mutter in die Stadt zurück. Magdalena aber blieb dort und setzte sich dem Grab gegenüber nieder.

Zeichnungen: Suzanne Thaler

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