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„Mahatma Gandhi ist tot“

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Die anmutige französische Friseurin in Bombay — „wirklich französisch“ stand auf ihren Karten — hatte für einige Minuten ihren wirklich französischen, rotgoldenen Puppensalon verlassen und mich der Obhut ihres schweigsamen, samtäugigen Hinduboys anvertraut. Er stand unbeweglich, mit feierlich ernstem Gesicht hinter meinem Sessel, und ich bemühte mich gerade.

ein Lächeln zu unterdrücken, als die Tür aufgerissen wurde und seine Herrin wieder hereingeflattert kam, erschreckend verändert. Eine Weile tastete sie wortlos, mit unsicheren Händen an meinem Haar, dann beugte sie sich zu mir:

„Gandhi ist tot“, stieß sie hervor, „sie haben ihn umgebracht“.

Obwohl sie nur geflüstert hatte, schien der Boy sie verstanden zu haben, denn mit einem Satz wollte er zur Tür hinaus. Ebenso blitzschnell riß sie ihn zurück: „Nein nein, geh nicht hinaus … bleib hier, man weiß nicht, was geschieht … Oh Gott, Krieg wird kommen … so ein Unglück — “

Wenige Minuten später war ich draußen. Fast furchtsam spähte ich nach allen Seiten, doch hier war es menschenleer, und ich beeilte mich, um in belebtere Gegenden zu kommen.

Es war ein klarer, kühler Abend, dieser F reitag, der 30. Jänner 1948. Die Seepromenade kam bereits in Sicht, messerscharf zeichneten sich die Palmen von dem leuchtenden Grün des Himmels ab, das Meer war kristallen, wie es nur während der kurzen Winterwochen hier ist, und trug weiße Schaumkronen. Menschengruppen standen überall, mit verstörten Gesichtern, ziellos schweifenden Blicken. Eine ungewisse, ängstliche Spannung lag in der Luft.

Aus dem Parterrefenster eines Gartenzimmers tönte ein Lautsprecher. Ich stellte mich zu den anderen Lauschenden, unter die ausladenden Zweige eines duftenden Jasminstrauches und hörte die Nachrichten aus Delhi, wo die Tat geschehen war. Eine Män

nerstimme sprach in Hindi, von Bewegung erstickt, mühsam sich wieder erhebend — es folgte die Nachricht in Englisch, verkündend, daß der Vater der Nation jetzt in dem Haus, aus dem er vor kurzem geschritten, aufgebahrt liege, so daß die Vorbeiziehenden ihn sehen könnten.

In den Straßen Bombays war es inzwischen leer und still geworden. Ein paar englische Soldaten hielten nervös Ausschau nach irgendwelchen Fahrzeugen.

„Gibt es denn heute keine? Wir müssen alle sofort in unser Lager zurück.“

Es gab nichts. Kein Fahrzeug. Nichts. Eine gestorbene Stadt. Die sonst um diese Stunde verschwenderisch beleuchteten Geschäfte dunkel, Türen und Fenster geschlossen und verbarrikadiert. Auch später abends, auf der Seepromenade, wo sonst hunderte Spaziergänger sich der Kühle erfreuten, herrschte Totenstille.

Das „Halsband der Königin“, so nennen die Bombayer das weite

Rund der Küste, die sich in weitem Bogen vom Stadtzentrum bis Malabarhill schwingt, schimmerte um die Wette mit dem Sternenhimmel. Das letzte Stück dieses Halsbandes beherbergte das Haus des Gouverneurs von Bombay. Drei Wochen waren erst verstrichen, seit der letzte englische Gouverneur, Sir John Colville, das Haus verlassen hatte und der neue indische Gouverneur, Sir Radscha Maharadscha Singh, ein Inder katholischen Glaubens, dort eingezogen war.

Die schwarzgeränderten Zeitungen des nächsten Morgens brachten die Einzelheiten der Tat. Gandhi war wie täglich gegen fünf Uhr nachmittags zum Gebet geschritten, das er zusammen mit seinen Anhängern verrichtete. Bevor er noch sein Ziel, eine Plattform, erreicht hatte, trafen ihn die vier Schüsse des Mörders aus zwei Schritten Distanz. Gandhi sank zu Boden, sein weißes Dhoti färbte sich mit Blut. Er wurde in das Haus zurückgetragen, und fünf

unddreißig Minuten später wurde sein Tod verkündet. Der Mörder war ein Hindu der brahmani- schen Kaste und Journalist, Mitarbeiter der „Hindu-Mahasab- ha“, einer politischen Bewegung, die, rechts vom Nationalkongreß stehend, die Interessen der orthodoxen Hindus vertrat und in heftiger Opposition zu der von Gandhi propagierten Verständigungspolitik mit den Mohammedanern stand.

„Keine Milch heute, kein Brot, gar nichts!“ verkündete an diesem Morgen der Boy, mit, wie mir schien, leicht triumphierender Stimme. Nein, kein Geschäft würde wagen, etwas zu verkaufen, unmöglich, etwas Eßbares zu erhalten. Bombay war auch an diesem Tag eine tote Stadt.

Gegen Mittag mehrten sich die Gruppen vor den Lautsprechern, um das Bestattungsritual zu verfolgen, das sich in Delhi auf einer Ebene längs des Flusses abspielte. Brausendes An- und Abschwellen von Menschenstimmen, der Gesang religiöser Hymnen, abwechselnd mit Gandhis Lieblingsmelodien, den „Bhadschans“, von Frauen gesungen, dazwischen das Dröhnen von Flugzeugen, die Ströme von Blumen abwarfen.

Gegen fünf Uhr begann der feierliche Gesang der Priester. Die

Stimme des Ansagers in Delhi verkündet, daß nun Gandhis Körper, besprengt mit dem heiligen Wasser vom Fluße Dschumna, auf den Holzstoß gelegt werde. „Während des Singens der Hymne zündet Ramdas, der dritte Sohn Gandhis, den Holzstoß an. Die ungeheure Menschenmenge erhebt sich schweigend.“ Man vermeinte die drückende Beklemmung, den gepreßten Atem der Hunderttausenden zu spüren; Schluchzen wuchs aus der Stille, es wälzte sich heran wie eine tosende Brandung, gipfelte in dem einstimmigen Schrei der Masse: „Mahatma Gandhi amar ho gae … “ (Mahatma Gandhi ist in die Ewigkeit eingegangen.)

Die Stimme sprach weiter: „Die Flammen schießen rot gegen die Abendsonne. Der Duft von Sandelholz und Weihrauch erfüllt die Luft. Mahatma Gandhi amar ho gae…"

Betäubt, erschüttert wagten wir wieder einen kurzen Spaziergang am Meer. Die Sonne sank langsam. Eine leichte Befreiung von der Spannung des Tages schien die Menschen zu erfüllen. Einige Geschäfte hatten geöffnet und Leute stellten sich um etwas Eßbares an. Aber als die Dunkelheit herabgesunken war, wurde es wieder still, nur die Klagen drangen aus allen Winkeln der Stadt. Gandhidschi war nicht mehr. Gandhidschi, der Vater aller Inder, der Apostel des Friedens, der Schöpfer der indischen Freiheit. Er war gegangen, um zu beten, daß der Haß aus dem Herzen seines Volkes schwinde, und er war nicht mehr zurückgekommen: Opfer des Hasses und der Gewalt.

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