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Major X und seine fünf Finger

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Der Generalstabs-Major X — worunter wir uns einen deutschen oder jugoslawischen oder ungarischen Offizier vorstellen wollen — erhält den Auftrag, einen Bericht über die personelle und materielle Stärke sowie über die operativen Pläne und taktischen Regeln des österreichischen Bundesheeres zu verfassen. Major X, von seinem Generalstabschef dazu ermächtigt, veranlaßt nun die militärischen und zivilen Geheimdienste seines Landes, ihre Agenten entsprechend anzusetzen.Einem naiven Präsenzdiener zahlt man ein paar Halbe Bier, bis er ausplaudert, daß seine Jägerkompanie über sechs schwere Panzerabwehrrohre und zwei mittlere Granatwerfer verfügt. Ein Wachtmeister, der einmal in einen unaufgeklärten Verkehrsunfall mit Fahrerflucht verwickelt war, wird erpreßt und nennt die Zahl der in Enns stationierten Unteroffiziersschüler. Ein Panzersoldat, den man wegen der veralteten Kampffahrzeuge hänselt, prahlt damit, daß sein Bataillon bereits auf den neuen Jagdpanzer „Kürassier“ umgerüstet worden sei. Ein ehemaliger Berufsoffizier, der verärgert ausgeschieden ist, macht aus seinem Herzen keine Mördergrube und erzählt jedem, der's wissen will, daß Österreichs Bundesheer nicht die Grenzen schützen, sondern höchstens das Alpenmassiv verteidigen könne. Ein als türkischer Gastarbeiter verkleideter Spion photographiert aus dem Knopfloch eine SAAB 105. Und eine Mata Hari jr. lacht sich den General Spannocchi an, um ihm den Operationsplan aus dem Nachtkastelladel zu stehlen.Ja, so vollzieht sich das also — allerdings nur im Kolportageroman letzter Kategorie. In Wirklichkeit läßt Major X nur einen Haufen bedruckten Papiers herbeischaffen: Bundesgesetzblätter, Parlamentsberichte, Zeitungsausschnitte, offizielle und offiziöse Bücher, Broschüren, Periodica, und einen Atlas.

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Der Generalstabs-Major X — worunter wir uns einen deutschen oder jugoslawischen oder ungarischen Offizier vorstellen wollen — erhält den Auftrag, einen Bericht über die personelle und materielle Stärke sowie über die operativen Pläne und taktischen Regeln des österreichischen Bundesheeres zu verfassen. Major X, von seinem Generalstabschef dazu ermächtigt, veranlaßt nun die militärischen und zivilen Geheimdienste seines Landes, ihre Agenten entsprechend anzusetzen.Einem naiven Präsenzdiener zahlt man ein paar Halbe Bier, bis er ausplaudert, daß seine Jägerkompanie über sechs schwere Panzerabwehrrohre und zwei mittlere Granatwerfer verfügt. Ein Wachtmeister, der einmal in einen unaufgeklärten Verkehrsunfall mit Fahrerflucht verwickelt war, wird erpreßt und nennt die Zahl der in Enns stationierten Unteroffiziersschüler. Ein Panzersoldat, den man wegen der veralteten Kampffahrzeuge hänselt, prahlt damit, daß sein Bataillon bereits auf den neuen Jagdpanzer „Kürassier“ umgerüstet worden sei. Ein ehemaliger Berufsoffizier, der verärgert ausgeschieden ist, macht aus seinem Herzen keine Mördergrube und erzählt jedem, der's wissen will, daß Österreichs Bundesheer nicht die Grenzen schützen, sondern höchstens das Alpenmassiv verteidigen könne. Ein als türkischer Gastarbeiter verkleideter Spion photographiert aus dem Knopfloch eine SAAB 105. Und eine Mata Hari jr. lacht sich den General Spannocchi an, um ihm den Operationsplan aus dem Nachtkastelladel zu stehlen.Ja, so vollzieht sich das also — allerdings nur im Kolportageroman letzter Kategorie. In Wirklichkeit läßt Major X nur einen Haufen bedruckten Papiers herbeischaffen: Bundesgesetzblätter, Parlamentsberichte, Zeitungsausschnitte, offizielle und offiziöse Bücher, Broschüren, Periodica, und einen Atlas.

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Und schon beim ersten flüchtigen Blättern darin kann er, zum Beispiel, die folgenden Schlüsse ziehen: Laut Truppendienst-Taschenbuch 10 von 1972 hat Österreich 600.000 ausgebildete Reservisten. Infolge der überaus kurzen Dienstzeit (früher neun, jetzt sechs Monate) und infolge der geringen Zahl von Reserveübungen kann aber nur ein kleiner Teil jener Reservisten als feldverwendungsfähig angenommen werden. Weiters: In einer Dienstzeit von sechs oder auch von neun Monaten ist es nahezu unmöglich, an sich geeignete Präsenzdiener für Kommandofunktionen der untersten Ebene (z. B. Gruppenkomman'dant) auszubilden, wie überhaupt die Wehrgesetzgebung von Anfang an die Heranbildung von Unterführern in riohtiger Relation zu der Zahl der Reservisten verhindert hat. Geführt werden kann also, schätzt Major X, nur vielleicht ein Viertel der ausgebildeten Reservisten. Bestärkt wird er in dieser Annahme durch den Armeekommandanten persönlich, der mehrmals öffentlich 150.000 Mann als den jetzigen Stand und 300.000 Mann als das Fernziel bezeichnet hat.

Major X hält General Spannocchi zwar für einen unverbesserlichen Optimisten, will aber nicht ausschließen, daß der österreichische Armeekomimandant in diesem Falle i— aus welchen politischen oder strategischen Gründen auch immer — untertrieben habe. 150.000 Mann: das wären, nach einem für Kleinstaaten gültigen Schlüssel, nur fünf ■Divisionen, während die Schweiz deren 20 au stellen vermag (12 Panzer-, Feld-, Grenz- und Gebirgsdivisionen plus 23 Brigaden, die ihrerseits etwa acht .bodenständigen Divisionen entsprechen). Unser Major, ein Pedant, beginnt daher eine neue Rechnung, diesmal von der materiellen Seite her; als Unterlage dllent ihm eine im Jahr 1969 vom Bundesminlisiterium für Landesverteidigung herausgegebene Bro-feohüre, die auf Seite 37 die im Bundesheer vorhandenen Großgeräte fsalhlentmäßig aufführt. Und wieder kommt Major X auf fünf Divisionen:

200 Fliegerabwehrkanonen sind 16 Batterien zu 12 Geschützen. Eine Division braucht mindestens vier Batterien: je eine vierte zum Schutz der Divisionstruppen und zur Schwcrgewichtsbildung. Flak ist also für nur vier Divisionen vorhanden, wobei nooh anzumerken ist, daß dann kein einziges Geschütz zur Abwehr von Fliegerangriffen auf E-Werke, Fabriken, Bahnhöfe usw. bereitsteht.

350 Haubitzen, Kanonen und Raketenwerfer bilden knapp 60 Batterien au sechs Rohren. Verteilt man die Heeres- und KorpsarttiHerie auf die Divisionen, dann muß man mindestens zwölf Batterien pro Division rechnen. Die artilleristische Ausstattung des Bundesheeres reicht also gerade für fünf Divisionen.

Dem österreichischen Jägerbataillon sind zehn Granatwerfer eingegliedert. Da die erwähnte Broschüre die Gesamtzahl der vorhandenen Granatwerfer mit 500 angibt, können 50 Bataillone mit dieser Steil-feuerwaffe ausgestattet werden. Und da die Division meistens neun Infanteriebataillone hat, kommt man auf etwa sechs Divisäonen

Neueren amtlichen und halbamtlichen Publikationen entnimmt Major X, daß seither izusätzlicbes Großgerät beschafft worden ist (z. B. .mittlere Granatwerfer britisch-kanadischer Provenienz und Pak aus der CSSR). Die Erfahrung läßt ihn aber vermuten, daß im selben Zeitraum veraltete Waffen ausgeschieden worden sind. An der Größenordnung — schwere Waffen für etwa fünf Divisionen — dürfte sich also n'iohts geändert haben.

Sodann stellt sich unser Major die Frage, wieweit diese Streitmacht gepanzert, wieweit sie beweglich, wieweit sie bodenständig ist. Die ministerielle Broschüre spricht nur summarisch von rund 1000 Panzerfahrzeugen; nähere Auskunft aber gibt das Truppendienst-Taschenbuch 10: es sind rund 400 Kampf-, Jagd- und Aufklärungspanzer, rund 450 Schützenpanzer und rund 100 Panzerhaubitzen, Fliegerabwehrpanzer, Bergepanzer usw. Ganz grob gerechnet, ist das die Ausstattung einer Panzerdivision.

Die Gesamtzahl der Motorfahrzeuge beträgt 12.000 (1000 Ketten-und 11.000 Radfahrzeuge). Diversen Manöverberichten entnimmt Major X, daß etwa sechs Mann auf ein Fahrzeug kommen (bei der höher technisierten NATO liegt das Verhältnis meist bei 4 zu 1). 12.000 mal 6 gibt 72.000, was wiederum bedeutet, daß mit Ausnahme der Panzerdivision die Verbände des 150.000-Mann-Heres nur teilmotoriisiert sind. Theoretisch wäre bei der Mobilmachung die Vollmotorisierung erzielbar durch die Einziehung privater Lastautos, Traktoren usw. Doch der Major findet kein diesbezügliches Gesetz.

In Divisionen ausgedrückt, beträgt die Stärke des mobilisierten Bundesheeres also eine Panzerdivision und vier teilmotorisierte Infanteriedivisionen. Positiv bemerkenswert ist die relativ große Zahl von Kampfund Jagdpamzem, negativ fällt die geringe Zahl von Fliegerabwehrkanonen auf — was um so schwerer wiegt, als Österreich neben Hubschraubern nur etwa 40 leichte Erdkampfflugzeuge, aber kein einziges Jagdflugzeug besitzt.

Bezüglich der Qualität der Ausstattung endlich braucht der Major keine großen Forschungen anzustellen. Vom alten deutschen MG 42 bis zum amerikanischen Kampfpanizer M-60A1, vom tschechoslowakischen Raketenwerfer bis au den französischen Hubschraubern ist das Bundesheer mit allgemein bekanntem Gerät ausgerüstet, das überdies in der Fachliteratur x-mal beschrieben worden ist. Das gilt sogar schon für die jüngste österreichische Eigenproduktion, den Jagdpanzer „Kürassier“.

Das Feindbild, das der Major zu entwerfen hat, wäre natürlich unvollständig ohne eine Bewertung des Ausbildungssltandes und der Kampfmoral. Aus eigener Erfahrung und aus vielfacher Beobachtung weiß Major X, daß ein Rekrut nach sechs oder auch neun Monaten Grundwehrdienst weder als infanteristischer Kämpfer hoch als technischer Spezialist voll einsatzfähig ist. österreichischen Tageszeitungen entnimmt der Major, daß der Dienst im Bundesheer — in schroffem Gegensatz etwa zur Schweizer Armee — der allgemeinen Arbeitszeit angepaßt ist. Unter seinen Papieren findet er .einen Artikel des früheren Ausbifldungschefs Lütgendorf, worin dieser beklagt, daß im Bundesheer ein Ausbüdner zehn bis zwölf Mann au betreuen habe, während das Verhältnis in der US-Army eins zu drei betrage. Anderen Publikationen zufolge fehlt es nicht selten, an Übungsgerät und Übuingsmunition; es wird ohne Dementi beriohtet, daß manche Soldaten während ihrer ganzen Dienstzeit keinen einzigen scharfen Schuß abgegeben haben. Die Dienstzeit ist also extrem kurz, die Ausbilldung offenbar nicht sehr intensiv.

Nun greift Major X nach dem Aktenordner, in dem die Manöverberichte des Militärattaches gesammelt sind. Der Offizier hat da zum Beispiel beobachtet, daß Panzergrenadiere den Wechsel zwischen autfigesessenem .und abgesessenem Kampf nicht beherrschen: schon zum Absitzen von ihrem Fahrzeug brauchen sie länger als ein Rentner zum Aussteigen aus der Tramway. Eine am Rand eines Laubwaldes postierte Pak ist mit Fichtenzweigen getarnt. Fahrzeuge in Kolonne halten oft viel zu geringen Abstand. Infanteristen bilden Trauben rings um die Panzer. Die Soldaten graben siich und ihre Waffen selbst dort nicht ein, wo kein Flurschaden dadurch verursacht würde. Tarnung gegen Luftaufklärung und stete Abwehrbereitschaft gegen Luftangriffe werden fortwährend gröblichst vernachlässigt. Stellungen werden so angelegt, daß der Gegner sie leicht aufklären und beschießen kann (zum Beispiel am Waldrand statt in der Tiefe des Waldes). Und da die überwiegende Mehrzahl der Soldaten mit Eifer bei der Sache ist, kann es sich da also nicht um die Folgen von Indolenz, sondern nur um Ausbil-duingsmängel handeln.

Als besonders aufschlußreich empfindet Major X die wiederholte Beobachtung des Militärattaches, daß sich ganze Züge mit rund fünfzig Mann nicht im Gelände verteilen, sondern geschlossen marschieren, angreifen, abwehren; wofür der Attaohe als Begründung gibt, daß es an ausgebildetem Personal (wie Korporalen oder auch nur Gefreiten) zur Führung der einzelnen Gruppen des Zuges fehlt.

Was nun die Einsatzgrundsätze und die Taktik betrifft, brauoht unser Major ebenfalls nicht zu spionieren, sondern nur zu lesen. Um den Vergleich zu erleichtern, hat er die Stärke des Bundesheeres in Divisionen (mittlerer Größe) berechnet. Wie dieses Heer tatsächlich gegliedert ist, sagt ihm, zumindest in grobem Umriß, bereits der seinerzeit vom Ministerium herausgegebene „Bericht der Bundesheer-Reformkommission“; und aus der Gliederung kann Major X, als gelernter Generalstabsoffizier, sich die wesentlichen Einsatzgrundsätze ableiten.

Nun gut: aber Taktik muß gelernt und deshalb gelehrt werden, und was man lehren Will, darf man eo ipso nicht geheimhalten. Als hochgradig geheim gilt hingegen gewiß die operative Planung. Aber weil Major X nun keineswegs etwa über den Truppenübungsplatz Allentsteig robbt oder in der Toilette der Landesverteidigungsakademie Gespräche belauscht, sondern lesend in seinem Büro sitzt, entdeckt er in den Heften 4 und 5 des Jahrgangs 1973 der „österreichischen Militärischen Zeitschrift“ den Artikel „Die Raum-verteidigung“. Zweifellos handelt es sich bei diesem von einem jungen Generalstäbler verfaßten Text nur um einen Digkussionsbeitrag. Allerdings — und deshalb stutzt Major X — beschreibt dieser Artikel genau, was führende Politiker und Militärs in den letzten Jahren immer wieder nicht lauten könne, die Republik an den Grenzen zu verteidigen, sondern daß erstens gewisse Räume nahezu kampflos preisgegeben werden müßten; zweitens um sogenannte Schlüsselräume teils statisch und teils beweglich möglichst lange gekämpft werden müsse, und drittens der sogenannte Zentralraum bis zum letzten zu halten sei, um von diesem heraus in die tiefen Flanken des Feindes wirken zu können Dem Artikel sind Karten und Skizzen beiigefügt, aus denen die Lage der Sah!üsseiräurne und der Umfang des Zentralraumes klar hervorgehen.

Unser Major ist sich durchaus bewußt, wie mangelhaft seine Studie bleibt, da er zwei Fragen — einmal Mobilmachung plus Aufmarsch, zum anderen die Bevorratung — nicht hat beantworten können. Wie viele Soldaten Österreich mobilisieren kann, ist nämlich ziemlich egal,angedeutet haben: daß ein realistischer Auftrag an das Bundesheer wenn die Mobilmachung länger als der feindliche Aufmarsch dauert, wie umgekehrt die sehr schnelle Mobilmachung einer auch nur relativ kleinen Streitmacht den Aggressor zur Änderung seiher Pläne zwingen könnte. Und die Zahl der Soldaten sowie die Zahl der Panzer, der Geschütze, der Flugzeuge, der Kraftfahrzeuge ist an sich belanglos, wenn, beispielsweise, Panzerabwehrmunition oder Flugbenzin nur für einen einzigen Großkampftag da ist, während umgekehrt eine in allen Sektoren günstige Versorgungslage — für 20 oder gar 30 Großkampftage ausreichend — den Gegner mehr abschreckt, als ein paar zusätzliche Panzerbataillone oder Flugzeug-gesehwader das vermöchten.

Aus der Tatsache allerdings, daß Mobdlisierungs- und Aufmarsoh-dauter sowie die Versorgungslage in Österreich — etwa im Gegensatz zur Schweiz und teilweise sogar zu Israel — streng geheimgehalten werden, muß Major X zwingend schließen, daß es beim Bundesheer um diese beiden Punkte ganz besonders schlecht bestellt ist. Die Militärmacht ist ja ein Mittel der Politik: sei's der Abschreckung oder zumindest Abhaltung, sei's der Einschüchterung. Weder abschrek-ken noch einschüchtern kann man, wenn man seine Machtmittel verbirgt. Von gewissen Einzelheiten der militärischen Technologie abgesehen, wird also jeder Staat seine militärische Macht nicht geheimhalten, sondern mit ihr demonstrieren: faktisch durch Manöver und Paraden, verbal durch fachliche und journalistische Publikationen.

MäTitärische Geheimhaltung ist also ein Indiz für militärische Schwäche, militärische Geheimniskrämerei ein Indiz für militärische Ohnmacht. „Cum tacent, clamant“, denkt Major X. Und das denken, zumindest seit der Affäre Aehren-thal-Possanner, auch viele Österreicher.

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