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Mammutspital oder Sozialstation?

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„Unsere Gesundheitspolitik und Krankenversicherung geht seit Jahrzehnten darauf aus, Selbständigkeit, Realitätsbewußtsein, Augenmaß und Sparsamkeit, Eigeninitiative des einzelnen und der Familie abzubauen. Gesundheit oder Krankheit fällt natürlicherweise zunächst in die Verantwortung, in die Versorgungsplanung und die existentielle Selbstführung des einzelnen oder der unmittelbaren Solidaritätsgemeinschaft der Familie“, schrieb Helmut Schelsky im Februar vergangenen Jahres in der „Deutschen Zeitung“.

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„Unsere Gesundheitspolitik und Krankenversicherung geht seit Jahrzehnten darauf aus, Selbständigkeit, Realitätsbewußtsein, Augenmaß und Sparsamkeit, Eigeninitiative des einzelnen und der Familie abzubauen. Gesundheit oder Krankheit fällt natürlicherweise zunächst in die Verantwortung, in die Versorgungsplanung und die existentielle Selbstführung des einzelnen oder der unmittelbaren Solidaritätsgemeinschaft der Familie“, schrieb Helmut Schelsky im Februar vergangenen Jahres in der „Deutschen Zeitung“.

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Immer deutlicher und in bereits allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens entwickelt und verstärkt sich das Phänomen des „passiven Menschen“. Das ursprüngliche Ziel des Sozialoder Wohlfahrtsstaates - nämlich immer größer werdende Selbständigkeit des einzelnen in seiner Lebensplanung und -führung, in seiner Initiative und Verantwortungsbereitschaft - hat sich paradoxerweise, jedoch psychologisch folgerichtig, in die entgegengesetzte Richtung deformiert.

Was seinerzeit Armut und Ausbeutung bewirkten - totales Unvermögen des Menschen, sein Leben aktiv zu gestalten -, dasselbe könnte nun die totale Absicherung, die totale Absenz von Risken und Gefahren verursachen.

So verfolgt auch die österreichische Regierungspartei weiter ihren Weg in dieser einmal eingeschlagenen Richtung. Doch „wo die erwünschte Idealqualität sich von den realistischen Bedürfnissen der menschlichen Existenz entfernt“, ist ein - wenn auch sicherlich schmerzhaftes - Umdenken oberstes Gebot der Stunde. Und nichts wäre demzufolge angesichts unseres heutigen Gesundheitssystems dringlicher, als die Idee des zentralistischen Mammutspitals aufzugeben und an Stelle des „Sozialsilos“ ein menschengerechtes Pflegesystem zu schaffen, das auch den Kranken und Alten in das gesellschaftliche Gefüge eingliedert und damit eine Entwicklung verhindert, wie sie Jürgen Reese beschreibt: „Durch staatliche Sozialpolitik - gewissermaßen legitimiert - stehlen sich Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft zu gerne aus ihrer fürsorglichen Verantwortung.“

Demgegenüber sprach sich gemäß dem Motto „Näher zum Bett“ Prof. Dr. Alois Stacher als Wiener Gesundheitsstadtrat anläßlich der Tagung „Humanität im Krankenhaus“ unter grundsätzlicher Beibehaltung des gegenwärtigen Spitalsystems für eine Verbesserung des persönlichen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient aus. Die Humanisierung des bestehenden Systems verfestigt jedoch gewissermaßen dieses und läßt kaum noch Raum für individuelle und private Pflege. So lehnt man zwar den Begriff „Sterbezimmer“ ab, will aber Räume schaffen, wo die Angehörigen des Sterbenden unter „Kontrolle der Schwester“ anwesend sein, ja sogar längere Zeit dort wohnen können. Man will die Besuchszeiten liberalisieren, aber niemandem scheint der wohl menschlichste Gedanke vertraut, daß der Sterbende in seinem Zuhause, im Kreise seiner Familie vom Leben Abschied nehmen will.

Ein „gut funktionierendes“ Spitalsteam soll gebildet werden: Das außermedizinische Personal - dazu gehören Geistliche, Sozialarbeiter, Hilfspersonen von verschiedenen Organisationen - steht in ständiger Zusammenarbeit mit dem medizinischen Personal; alles im Rahmen des zentralen Krankenhauses.

Abgesehen davon, daß die Betreuung im Spital unbestreitbar um ein Vielfaches mehr kostet als sämtliche Einrichtungen der Heimpflege, ist heute eindeutig erwiesen, um wieviel der Heilungsprozeß langsamer vor sich geht, wenn der Mensch aus seiner vertrauten Umwelt herausgerissen, auf die „Insel der Kranken“ verfrachtet wird und somit der Anonymitat, Isolation und inneren Vereinsamung preisgegeben ist. Ärzte, Psychologen und Soziologen haben schon lange erkannt, daß die Trennung von Familie, Nachbarschaft, Gemeinde allzu oft physische Krankheiten erst hervorrufen.

Diesen Erkenntnissen Rechnung tragend und in Anlehnung an das in Rheinland-Pfalz seit 1970 erprobte System der „Krankenbetreuung daheim“ stellte Erhard Busek für die österreichische Volkspartei im Rahmen ihrer Alternative „Das Gesundheitswesen der Zukunft“ - sie soll in sechs Gesundheitskonferenzen erarbeitet werden - das Modell „Sozialstationen“ vor.

Im Sinne einer „Pflege auf Anruf bildet dieses System ein soziales Geflecht, das durch Zusammenarbeit und Koordination aller bestehenden sowie der neu zu schaffenden privaten oder öffentlichen Sozialeinrichtungen rasche Hilfe in den Bereichen der medizinischen Versorgung, Alten-, Familien- und Jugendhilfe sowie der Psychohygiene anbietet und organisiert. Diese Stationen sind in Ergänzung zur ärztlichen Tätigkeit vor allem Einsatzstellen für dezentral arbeitende Fachkräfte der ambulanten Versorgung von Bedürftigen. Der Einzugsbereich umfaßt die Größe eines kleineren Bezirkes bzw. einer oder mehrerer Gemeinden.

Der pflegebedürftige Kranke oder Alte kann innerhalb dieses Systems ein vollwertiger Mensch bleiben. Er hat „seine“ Schwester, „seinen“ Betreuer, er verbleibt in seiner gewohnten Umgebung und nimmt an deren Leben teil. Die Sozialstation beschränkt sich aber nicht nur auf die Entsendung von Pflegepersonal, vielmehr ist eine ihrer Hauptaufgaben die Motivation zur Familien- und Nachbarschaftshilfe.

In Zusammenarbeit mit dem niedergelassenen Hausarzt und den Pflegestationen für Leichtkranke (Beobachtung, Nachbehandlung) wird es möglich, die Spitäler von der Notwendigkeit verfrühter Aufnahme und überlanger Aufenthalte zu entheben. Darüber hinaus würde ein solches System der Mündigkeit des Staatsbürgers näher kommen: „Der Staatsbürger ist zum größten Teü selbst in der Lage, darüber zu entscheiden, was ihm nützt.“ Das Netz der Sozialstationen bildet nach Ansicht seiner Befürworter eine zutiefst humane Alternative zum gegenwärtigen Spitalssystem, durch die unser Menschsein eine neue Dimension der Freiheit und sozialen Verantwortung gewinnen könnte.

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