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Man spurt die Solidaritat der Leute

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FRAGE: Herr Pelikan, Sie haben kürzlich im Wiener Europa-Verlag ein neues Buch herausgegeben mit dem Titel „Pervertierte Justiz — Bericht der Kommission des ZK der KPC über die politischen Morde und Verbrechen in der Tschechoslowakei 1949 bis 1963“. Dieses Buch scheint anzuschließen an ein vorangegangenes Buch mit dem Titel „Das unterdrückte Dossier — Bericht der Kommission des ZK der KPC über politische Prozesse und Rehabilitierungen, von 1949 bis 1968“.

Welche Wirkungen wird Ihre Publikation in der CSSR, in Ihrer Heimat, verursachen? Denn wenn wir das richtig sehen, „kompromittieren“ Sie ja eine Reihe von Personen, die heute noch leben und die in den fünfziger Jahren eine — entscheidende, aber doch tragische Rolle, eine sehr gefährliche Rolle gespielt haben. Man könnte vielleicht auch sagen, die Mörder sind unter uns, in der CSSR. Ist das richtig?

PELIKAN: Ja, natürlich leben die meisten Leute noch, aber man kann ihnen nicht helfen. Das wäre nämlich die Taktik von Antonin Novotny, der auf der einen Seite die Rehabilitierung wollte, damit er sich von den Fehlern der Vergangenheit distanziert, aber auf der anderen Seite hat er Angst gehabt, die ganze Wahrheit der Bevölkerung zu sagen, damit die Rolle der Partei — die hegemonische Rolle — und auch die Führer nicht berührt würden. Aber ich glaube, man kann hier nicht Kompromisse mit der Wahrheit machen.

FRAGE: Ist das zufällig, daß heute in erster Linie Intellektuelle für ihre sogenannten Taten oder Straftaten vom Jahre 1968 büßen müssen?

PELIKAN: Ich glaube, der Unterschied ist nicht so groß.Auch im Jahre 1950 wurde zuerst nicht die politische Garnitur verurteilt und verhaftet. Es waren zuerst auch Intellektuelle oder einzelne Journalisten. Das ist immer die Methode: zuerst muß man die Atmosphäre vorbereiten, muß man sozusagen die kleineren Leute verhaften, und dann kann man sagen, diese kleineren Leute haben Verbindungen gehabt zu dem oder dem anderen Politiker, bis man auf die großen Politiker kommt. Aber ich glaube, die Husäk-Führung ist klüger in dem Sinne, daß sie weiß, daß man heute die Ereignisse vom Jahre 1950 und die ganze Prozedur nicht mehr wiederholen kann, weil die Leute schon zuviel wissen. Man findet heute nicht mehr Menschen, die freiwillig sagen würden, „ich bin schuldig“, obwohl sie nicht schuldig sind. Man findet auch nicht die Richter, die zum Beispiel ganz unschuldige Leute verurteilen wollen. Man findet nicht die Polizisten, die jemanden quälen wollen, weil sie schon Angst haben, die Situation könne sich ändern.

FRAGE: Und wie glauben Sie nun, wird sich die Lage in der CSSR entwickeln? Glauben Sie, daß die Husäk-Führung völlig abhängig ist von den Entwicklungen in der Sowjetunion etwa nach der Abberufung des ukrainischen Parteisekretärs Schelest? Und dann: Was kann die Opposition, die größtenteils im Westen lebt, was kann sie tun, um die Situation in der Tschechoslowakei im richtigen Sinne zu normalisieren?

PELIKAN: Zuerst möchte ich sagen, daß die Opposition gegen das heutige Regime und gegen die Okkupation in der Tschechoslowakei im Lande lebt und wirkt. Wir, die im Exil leben, sehen uns an als einen Teil dieser Opposition. Wir haben größere Möglichkeiten zu publizieren, zu sprechen, zu veröffentlichen, aber die Hauptrolle muß von der politischen Leitung im Lande gespielt werden.

FRAGE: Politische Leitung — was meinen Sie damit?

PELIKAN: Wenn ich sage, politische Leitung, dann meine ich Dubcek, Smrkovsky, Kriegel und die Leute, die noch immer eine große Autorität in der Bevölkerung haben. Natürlich gibt es in der Bewegung, die heute illegal ist, auch neue politische Führer, jüngere Leute, die mit ihren eigenen Methoden kämpfen, und die Bewegung hat viele verschiedene Tendenzen. Das ist nämlich die neue Sache, daß heute in der Tschechoslowakei, also in einem

kommunistischen Staat, eine sozialistische Opposition entsteht und sich entwickelt, natürlich unter sehr großen Schwierigkeiten, weil sie nicht darauf vorbereitet war. Sie kämpfen erstens für den Abzug der sowjetischen Truppen aus der Tschechoslowakei, das heißt für die Wiederherstellung der Selbständigkeit der Tschechoslowakei, zweitens für den eigenen Weg zum Sozialismus, das heißt für dieselben Ideen, die charakteristisch waren für den Prager Frühling, also für die Kontrolle der Macht, für die Autonomie der Gewerkschaften, für die Freiheit der Presse und für die Rehabilitierung der Opfer der politischen Prozesse. Die Tschechoslowakei ist heute ein besetztes Land, und in dem Sinne sind die Bedingungen sehr abhängig von der Entwicklung in der Sowjetunion. Ob es in der Sowjetunion auch zu einem gewissen Prozeß kommt,kann man nicht sagen. Man muß verstehen, daß es für die Sowjetunion besser ist, sozialistische Länder in Osteuropa zu haben, die freiwillig mit der Sowjetunion zusammenarbeiten, aber ihren eigenen Weg zum Sozialismus gehen, wie zum Beispiel Jugoslawien. Ich glaube, wir sind noch weit davon entfernt, aber ich glaube, die Sowjetunion muß früher oder später zu einer solchen Anerkennung kommen, wie es schon Chruschtschow einmal versucht hatte. Das ist nur eine Frage der Zeit.

FRAGE: Würden Sie Namen nennen können von den Leuten, die heute zur sogenannten linken Opposition in der CSSR gehören?

PELIKAN: Ja, es gibt in der Tschechoslowakei verschiedene Gruppierungen, wie zum Beispiel eine der repräsentativsten, die sozialistische Bewegung der tschechoslowakischen Bürger, dann die revolutionäre Gruppe Jan Palach oder die zivile Resistancebewegung. Die Leute, die jetzt offiziell angeklagt werden wegen Oppositionstätigkeit, das sind zum Beispiel Hübl, der ehemalige Rektor der Parteihochschule, Jaroslav Sabata, der Psychologe aus Brünn, Jaroslav Litera, Alfred Cerny, alle vier alte Kommunisten und frühere Mitglieder des Zentralkomitees der Partei, oder die bekannten Journalisten Karel Kyncl, Jifi Hochmann, Vladimir Nepras, auch die Historiker wie Karel Bartosek waren 20, 30, 40 Jahre in der Kommunistischen Partei und wurden erst 1969 ausgeschieden. Das bedeutet aber nicht, daß eine andere, antisozialistische Opposition nicht auch existiert und vielleicht auf einer potentiell größeren Basis, weil die Leute durch die Invasion sehr schok-kiert wurden.

FRAGE: Glauben Sie, daß man dadurch, daß man über die Festhaltung dieser Leute in den Kerkern berichtet, hilft? Und kann man Ihre - Tätigkeit auch dahingehend verstehen, daß Sie sozusagen durch Herstellung von Öffentlichkeit, zumindest im Westen, dazu beitragen, daß die Inhaftierten entweder besser behandelt oder auch vorzeitig entlassen werden? Hat das Regime Angst vor einer Publizität im Westen?

PELIKAN: Ja, ganz bestimmt. Die öffentliche Meinung spielt hier eine große Rolle und die Solidarität auch, schon moralisch gesehen. Im Jahr 1950 waren die Angeklagten ganz isoliert. Heute ist die Situation ganz anders. Man fühlt die Solidarität der Leute, die Bevölkerung sammelt Geld für die Familien usw. Und auch die Solidarität im Westen, in der Welt, ist sehr wichtig, denn erstens kann man diese sogenannten Fälle nicht vergessen — das möchte das Regime gerne, zum anderen ist eine permanente Solidarität, die zum Beispiel die politischen Häftlinge in der Tschechoslowakei zu befreien fordert, eine sehr wichtige Unterstützung der Opposition innerhalb der Tschechoslowakei.

FRAGE: Und gibt es tatsächlich eine Solidarität im Westen, zumindest unter Sozialisten oder Kommunisten?

PELIKAN: Ja. Da bestehen sogar mehrere Organisationen, wie zum Beispiel das „Komitee des 15. Jänner“ mit Garaudy, Tillon oder ein Komitee zur Befreiung der politischen Häftlinge in Osteuropa, von dem französischen Studentenverband UNEF gegründet. Jetzt wurde eine Jury etabliert mit der Teilnahme von besonders bekannten Persönlichkeiten aus der Linken; ähnliche Aktionen sind auch in England, in Italien, in der Bundesrepublik geplant. Wenn die Bewegung für die Befreiung von Angela Davis sehr stark war, dann gibt es keinen Grund, warum auch die Bewegung für diese Sozialisten wie Hübl oder Sabata oder Kyncl nicht ebenso stark sein sollte.

FRAGE: Sie schreiben, daß das sowjetische Modell der sozialistischen Gesellschaft in der CSSR nicht gemäß sei, weil die Tschechoslowakei eine ganz andere Struktur habe, eine ganz andere Mentalität und Tradition. Daß also das sowjetische Modell den Tschechen und Slowaken aufgezwungen wurde in der Vergangenheit und heute wieder. Kann man sagen, daß die Kultur, daß die kulturelle Tradition der Vergangenheit stärker auf den Westen ausgerichtet war?

PELIKAN: Nun ja, ich glaube, daß die Tschechoslowakei als Land durch ihre Struktur, ihre ökonomische Struktur und politische, literarische und kulturelle Tradition den westeuropäischen Ländern viel ähnlicher ist als den osteuropäischen Ländern. Das ist auch der Grund, warum zum Beispiel die Repression im Jahr 1950 die größte war. Die Tschechoslowakei war ein Land mit parlamentarischer Demokratie. Und es ist die ganze Tragödie des Sozialismus, daß die Revolution in einem Land, das nicht das entwickeltste war, wie es Marx und Engels vorgesehen hatten, sondern in Rußland stattfand, einem Land, das wirklich eines der reaktionärsten war in Europa. Und deshalb auch diese Exportierung des sowjetischen Modells nach dem zweiten Weltkrieg. Der größte Widerstand kam aus der Tschechoslowakei, natürlich auch wegen der Traditionen. Die ganze fortschrittliche Tradition ist viel ähnlicher den westeuropäischen Ländern, als den osteuropäischen. Und deshalb will man die potentiellen Gegner, die Intelligenz, vernichten, damit auch hier die Bedingungen gegeben werden für eine bedingungslose Akzeptierung des sowjetischen Modells.

Mit Jifi Pelikan sprach „Furche“-Mitarbeiter Andreas W. Mytze.

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