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Mann mit Taktstock

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Die Geschichte liegt schon etliche Jahre zurück. Damals wurde die „musikalische Szene“ — ein Begriff, der erst viel später populär wurde — im Wiener Prater noch nicht von Pop-Rhythmen beherrscht, vielmehr erfreute man sich vorwiegend an Wiener Liedern, Operettenmelodien, virtuosen Gustostückerln und publikumswirksamen Opernouvertüren. Man summte mit und hatte damit Gelegenheit, eine gewisse musikalische Bildung auch nach außen hin zu zeigen, die schon we-

nig später von einer nachdrängenden und ganz und gar anders orientierten Vergnügungsmentalität als antiquierte Unterhaltungsform abgetan worden ist.

Nicht in allen Praterlokalen gab es, was man heute „life-music“ nennen würde. In zahlreichen Restaurants und Gaststätten wurden Schallplatten abgespielt und in den dazugehörigen Gärten hingen Lautsprecher in den Bäumen und verströmten in bunter Folge die verschiedensten Melodien.

In solchen Lokalen nun verkehrte einige Jahre hindurch ein Mann, den alle, die ihn auch nur einigermaßen kannten, Jakob nannten, ohne daß jemand hätte sagen können, ob er tatsächlich so hieß. Obwohl er sich nämlich größter Beliebtheit erfreute, verkehrte er mit den Gästen nur par distance. Betrat er aber an einem lauen Sommerabend einen der Gärten, so hörte man an den meisten Tischen den lapidaren Satz: „Da schaut’s, der Jakob ist da!“. Und das in einem Tonfall, als wäre damit alles gesagt.

Stets war er tadellos gekleidet, und zwar so, als befände er sich nicht in einem volkstümlichen Vergnügungslokal, sondern vielmehr auf einer außerordentlich seriösen Abendgesellschaft; die schwarzen Schuhe immer auf Hochglanz poliert, und nie ohne Krawatte und Manschettenknöpfe. So machte er jedesmal den Eindruck eines Mannes, der mit gutem Gewissen in dem den diversen Heiratswünschen vorbehaltenen Annoncenteil einer soli den Zeitung unter dem beliebten Kennwort „Vorkriegscharakter“ inserieren hätte können, ganz egal, welche kriegerischen Ereignisse da nun eigentlich als Zäsur dienen mochten.

Adäquat diesen Äußerlichkeiten benahm sich Jakob bei all seinen Auftritten in der Öffentlichkeit äußerst ruhig und gelassen, als erfülle er mit jeder seiner Bewegungen ganz bestimmte, nur ihm bekannte Pflichten.

Zwei Requisiten waren mit dem Erscheinen Jakobs untrennbar verbunden: eine hölzerne, würfelförmige Kiste von etwa einem Meter Seitenlange, und ein Dirigentenstab. Die Kiste plazierte er mit dem Ernst eines ein geheimnisvolles Ritual zelebrierenden Medizinmannes unter einen der Bäume, dann bestieg er sie, hob seinen

Taktstock — und begann die gerade aus den Lautsprechern erklingende Melodie zu dirigieren.

Von seiten jener, die Jakob zum erstenmal sahen, mochte in diesem Stadium des Geschehens Gelächter aufkommen; Gelächter allerdings, das schon in den nächsten Minuten erstarb.

Jakobs erste taktierenden Bewegungen bewiesen nämlich jedem, auch einem musikalischen Laien, daß er es hier mit einem Meister seines Fäfches zu tun hatte. Dieser Mann auf dem unansehnlichen provisorischen Podium führte sein imaginäres, durch Raum und Zeit so unendlich weit von ihm getrenntes Orchester mit einer verblüffenden Souveränität; seine rechte Hand arbeitete perfekt, während er mit der linken, ganz wie die größten Vorbil der, die Einsätze gab, die Veränderungen der Tonstärke anzeigte und den verschiedenen Klangkörpern des Orchesters ihre ebenso verschiedenen Aufgaben zuteilte. Er dirigierte, als habe er die Partituren der Stücke, die gerade gespielt wurden, unmittelbar vor sich, ohne allerdings von ihnen abhängig zu sein. Dazu kam eine Vertrautheit mit der Rhythmik, die enorme Sensibilität verriet.

Daß er darüber hinaus auch mit dem Repertoire keinerlei Schwierigkeiten hatte und jede einzelne Nummer leitete, als habe er sie kurz vorher in schwerster Probenarbeit mit seinem Ensemble erarbeitet, sei nur am Rande und der Vollständigkeit wegen erwähnt.

Selbstverständlich gab es nach jedem Auftritt lautstarken Bei fall. Die Leute riefen seinen Namen und schwankten deutlich zwischen ehrlicher Bewunderung und jener vergnügten und etwas überheblichen Stimmung, die ein derart sonderbarer Auftritt zweifellos wachrufen mußte.

Jakob aber nahm diese gemischten Reaktionen gleichmütig zur Kenntnis. Er verbeugte sich korrekt, wartete, bis eine neue Platte aufgelegt wurde und die ersten Takte durch die Lautsprecher erklangen — und war schon mit seinen ersten Bewegungen so sehr Herr der Situation, daß alle Geräusche aus dem Publikum verstummten und jene gespannte Aufmerksamkeit eintrat, die man ansonsten nur bei den Darbietungen versierter Dirigenten bemerken kann.

Eines Tages verschwand Jakob so unauffällig aus den Praterlokalen, wie er dort aufgetaücht war. Und erst jetzt, nach seinem Abgang, fanden sich Neugierige, die Näheres über ihn wissen wollten.

Aber nicht einmal sein wirklicher Name war eindeutig zu eruieren und auch sonst konnte nicht viel mehr als das unvollständige Skelett einer Persönlichkeit zusammengetragen werden.

Der Mann, der Jakob genannt wurde, hatte in seinen jungen Jahren Musik studiert und sich dabei besonders für die Dirigentenausbildung interessiert. Der Tod des Vaters und materielle Nöte zwangen ihn, das Studium abzubrechen und das Geschäft seines Vaters, eine Fleischhauerei, zu übernehmen. Was aber blieb, war seine Besessenheit für das einmal erwählte Metier; neben seinem ganz und gar unmusischen Alltag setzte er die Dirigenten- Ausbildung quasi autodidaktisch fort. Er lernte und vervollkomm- nete sich bis ins Pensionsalter.

Nun endlich hatte er Zeit, seinem oben erwähnten Drang nachzugeben, wenn auch auf eine Weise, die zweifellos ans Lächerliche grenzte. Aber das irritierte ihn nicht im geringsten, und so bewies er auf seine Art, daß es, entgegen einer sehr weit verbreiteten Meinung, durchaus möglich ist, die Träume seiner Jugend aus der Tristesse des täglichen Lebens zu retten und zumindest bis zu einem gewissen Grade zu realisieren.

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