7050515-1990_50_07.jpg
Digital In Arbeit

Markt oder Mafia

19451960198020002020

Horrende Preise, verdächti­ge Händler, Geschrei, Schmutz: Das Wissen der Sowjetbürger über den frei­en Markt basiert auf dubio­sen Erlebnissen am Kol­chos- oder Schwarzmarkt:

19451960198020002020

Horrende Preise, verdächti­ge Händler, Geschrei, Schmutz: Das Wissen der Sowjetbürger über den frei­en Markt basiert auf dubio­sen Erlebnissen am Kol­chos- oder Schwarzmarkt:

Werbung
Werbung
Werbung

Laut Umfrage verbinden 47 Pro­zent der Moskauer die Vorstellung eines freien Marktes mit galoppie­render Inflation, 41 Prozent erwar­ten eine rapide Zunahme an Ver­brechen und 39 Prozent befürchten ein Versinken im sozialen Chaos. Trotzdem sind zwei Drittel der Befragten für einen „sofortigen" Übergang zur freien Marktwirt­schaft. Nicht, weil sie besonderes Vertrauen zu Gorbatschow oder den sogenannten Schatalin-Plan haben, sondern „weil es schlechter nicht mehr werden kann".

Ökonomischer Wandel war in der Sowjetunion von jeher mit Gewalt­anwendung verbunden: Die Werk­tätigen wurden faktisch als „Un­mündige" behandelt. Betriebslei­ter, die sich den Plandirektiven nicht beugen wollten, wurden ver­bannt - manchmal auch erschos­sen. Und „Unternehmertum" galt als Synonym für Gaunerei schlecht­hin. In diesem geistigen Klima, wo bis dato jede wirtschaftliche Initia­tive abgewürgt wurde, kann die nötige Aufbruchstimmung kaum Platz greifen.

Dafür macht sich die Angst vor der überbordenden Wirtschaftskri­minalität immer deutlicher bemerk­bar. Nach Meinung des Sowjetex­perten Ren6 Ahlberg umgibt den Sowjetbürger im Alltag „ein dich­tes Geflecht aus illegalen Geschäften und kriminellen Aktivitäten, das in der modernen Sozialgeschichte beispiellos" ist. So berichtete „Argumenty i Fakty", daß jeweils 100 Personen im Durchschnitt 350 Menschen kennen, die sie für Gau­ner und Diebe halten. Mit den Ko­operativen, die in der Anfangspha­se der Perestrojka quasi als markt­wirtschaftliche Wetterballons los­gelassen wurden, hat die Krimina­lität zugenommen und die Mafia ein gemachtes Bett gefunden.

Um zu verstehen, unter welchen Umständen die Marktwirtschaft die Planwirtschaft ablösen soll, lohnt es sich, zwei Phänomene des gegen­wärtigen Wirtschaftslebens genau­er anzusehen: die Schattenwirt­schaft und die Kooperativen (Ge­nossenschaften). Nach offiziellen Schätzungen liegt der Anteil der Schattenwirtschaft bei 150 Milliar­den Rubel Umsatz jährlich. Das ist ein Fünftel des sowjetischen Brut-tonationalproduktes.

In den Fabrikshallen stapeln sich Rohstoffe und Ausrüstungen im Wert von 470 Milliarden Rubel. Diese ungenützten Reserven bilden die materielle Basis für die Schat­tenwirtschaft. Eine weitere wichtige Quelle bildet die „nichterfaßte" Produktion: So wurden in Usbeki­stan riesige Baumwollfelder ent­deckt, die heimlich bestellt und von den lokalen Funktionären ausge­beutet wurden. Weitverbreitet ist auch das Manipulieren von „Ver­lusten" : Nur ein Drittel der Kartof­fel in den Moskauer Lagern landet auf dem Ladentisch. Laut Angaben des sowjetischen Innenministe­riums haben im Vorjahr 108.500 Betriebsleiter auf diese Weise Dieb­stähle begangen oder gedeckt.

Gegenwärtig gibt es im Sowjet-reich 200.000 Kooperativen mit 4,5 Millionen Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 40 Milliarden Rubel. Und dies alles, obwohl die Behörden ihnen in den ersten vier Jahren ihrer Existenz Knüppel jeder Art - an die 800 Dekrete mit Son­derbestimmungen wurden erlassen - vor die Füße warfen. So müssen Kooperativen für Rohmaterial wesentlich höhere Preise als die Staatsbetriebe zahlen (bei Kunst­stoffen etwa das Fünffache), und mehr als doppelt so hohe Sozialab­gaben entrichten. Ab 400 Rubel tritt eine progressive Einkommensteuer in Kraft, die bis zu 60 Prozent des Lohnes wieder verschlingt. Wer trotzdem selbständig wird, ist stän­diger Verfolgung ausgesetzt: Unter dem mitleidigen Titel „Sowjetischer Millionär bittet um Verständnis" berichteten die „Moscow News", wie die profitable Kooperative „Technika" zuerst von einer Regie­rungskommission, dann vom Fi­nanzministerium, von der Volks­kontrolle und so weiter „gefilzt" wurde, um Verdächtiges in der Ge-schäftsgebarung aufzuspüren. Daneben muß die Hälfte aller Koo­perativen Schutzgelder an mafia­artige Erpresserbanden zahlen: Die „Literaturnaja Gazjeta" berichte­te, wie Gangster einen Neureichen in einen Sarg zwängten und diesen zu zersägen begannen, bis das Op­fer bereit war die „Abgabe" zu lei­sten.

Daneben gibt es noch die krimi­nelle Verflechtung des Staatssek­tors mit dem Privatsektor: Die Staatsbetriebe geben Vertragsar­beit an die Kooperativen weiter, ohne daß etwas wirklich produziert wird. Die fingierte Rechnung zahlt der Staat, die Beute teilt man sich 50:50.

Aber viele Kooperativen, sofern sie nicht sowieso von der Mafia angelegt wurden, treiben tatsäch­lich bedenkliche Geschäfte: Fleisch wird massenweise - unter der Hand - zu staatlichen Preisen aufgekauft und als Schaschlik mit zehnfachem „genossenschaftlichen" Zuschlag weiterverkauft.

Ähnlich wird in anderen Sparten verfahren. Der Ökonom Nikolai Schefow dazu: „Schon die Anfänge der Genossenschaftsbewegung haben vor Augen geführt, daß ohne die Beseitigung des Def izites an ma­teriellen Ressourcen der Übergang zu Marktbeziehungen ziemlich verzerrte Formen annehmen kann." Die Genossenschafter sind weitaus verhaßter als die ungleich korrup­teren Wirtschaf tsapparatschiks, die ihre Betrügereien besser abschir­men können. Die ewige Knappheit an Rohstoffen führt auch dazu, daß die meisten Genossenschaften Kon­takte zu Schieberkreisen anknüp­fen müssen, um das nötige Material zu bekommen.

Solange die Planwirtschaft exi­stiert, kann der Teufelskreis „Mangelwirtschaft-Schieberei-Genossenschaften-Mafia" kaum durchbrochen werden. Denn es ist in erster Linie die schwerfällige Wirtschaftsbürokratie, die die Pe­restrojka zur Farce verkommen läßt. Dieses administrative Weisungssy­stem ersinnt für jeden Beschluß der Regierung zwecks Sanierung der Wirtschaft Sonderbestimmungen, die den Intentionen der Regierung zuwiderlaufen und diesen schon von vornherein zum Scheitern verur­teilen.

Der erste Schritt zum freien Markt wäre also die Entmachtung der Nomenklatura im Wirtschafts­sektor. Traut sich Gorbatschow, dieses „wilde Fleisch" herauszu­schneiden? Westliche Kreditgeber sollen, bevor sie tief in die Tasche greifen, Bedingungen in diese Rich­tung stellen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung