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Markt oder Mafia
Horrende Preise, verdächtige Händler, Geschrei, Schmutz: Das Wissen der Sowjetbürger über den freien Markt basiert auf dubiosen Erlebnissen am Kolchos- oder Schwarzmarkt:
Horrende Preise, verdächtige Händler, Geschrei, Schmutz: Das Wissen der Sowjetbürger über den freien Markt basiert auf dubiosen Erlebnissen am Kolchos- oder Schwarzmarkt:
Laut Umfrage verbinden 47 Prozent der Moskauer die Vorstellung eines freien Marktes mit galoppierender Inflation, 41 Prozent erwarten eine rapide Zunahme an Verbrechen und 39 Prozent befürchten ein Versinken im sozialen Chaos. Trotzdem sind zwei Drittel der Befragten für einen „sofortigen" Übergang zur freien Marktwirtschaft. Nicht, weil sie besonderes Vertrauen zu Gorbatschow oder den sogenannten Schatalin-Plan haben, sondern „weil es schlechter nicht mehr werden kann".
Ökonomischer Wandel war in der Sowjetunion von jeher mit Gewaltanwendung verbunden: Die Werktätigen wurden faktisch als „Unmündige" behandelt. Betriebsleiter, die sich den Plandirektiven nicht beugen wollten, wurden verbannt - manchmal auch erschossen. Und „Unternehmertum" galt als Synonym für Gaunerei schlechthin. In diesem geistigen Klima, wo bis dato jede wirtschaftliche Initiative abgewürgt wurde, kann die nötige Aufbruchstimmung kaum Platz greifen.
Dafür macht sich die Angst vor der überbordenden Wirtschaftskriminalität immer deutlicher bemerkbar. Nach Meinung des Sowjetexperten Ren6 Ahlberg umgibt den Sowjetbürger im Alltag „ein dichtes Geflecht aus illegalen Geschäften und kriminellen Aktivitäten, das in der modernen Sozialgeschichte beispiellos" ist. So berichtete „Argumenty i Fakty", daß jeweils 100 Personen im Durchschnitt 350 Menschen kennen, die sie für Gauner und Diebe halten. Mit den Kooperativen, die in der Anfangsphase der Perestrojka quasi als marktwirtschaftliche Wetterballons losgelassen wurden, hat die Kriminalität zugenommen und die Mafia ein gemachtes Bett gefunden.
Um zu verstehen, unter welchen Umständen die Marktwirtschaft die Planwirtschaft ablösen soll, lohnt es sich, zwei Phänomene des gegenwärtigen Wirtschaftslebens genauer anzusehen: die Schattenwirtschaft und die Kooperativen (Genossenschaften). Nach offiziellen Schätzungen liegt der Anteil der Schattenwirtschaft bei 150 Milliarden Rubel Umsatz jährlich. Das ist ein Fünftel des sowjetischen Brut-tonationalproduktes.
In den Fabrikshallen stapeln sich Rohstoffe und Ausrüstungen im Wert von 470 Milliarden Rubel. Diese ungenützten Reserven bilden die materielle Basis für die Schattenwirtschaft. Eine weitere wichtige Quelle bildet die „nichterfaßte" Produktion: So wurden in Usbekistan riesige Baumwollfelder entdeckt, die heimlich bestellt und von den lokalen Funktionären ausgebeutet wurden. Weitverbreitet ist auch das Manipulieren von „Verlusten" : Nur ein Drittel der Kartoffel in den Moskauer Lagern landet auf dem Ladentisch. Laut Angaben des sowjetischen Innenministeriums haben im Vorjahr 108.500 Betriebsleiter auf diese Weise Diebstähle begangen oder gedeckt.
Gegenwärtig gibt es im Sowjet-reich 200.000 Kooperativen mit 4,5 Millionen Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 40 Milliarden Rubel. Und dies alles, obwohl die Behörden ihnen in den ersten vier Jahren ihrer Existenz Knüppel jeder Art - an die 800 Dekrete mit Sonderbestimmungen wurden erlassen - vor die Füße warfen. So müssen Kooperativen für Rohmaterial wesentlich höhere Preise als die Staatsbetriebe zahlen (bei Kunststoffen etwa das Fünffache), und mehr als doppelt so hohe Sozialabgaben entrichten. Ab 400 Rubel tritt eine progressive Einkommensteuer in Kraft, die bis zu 60 Prozent des Lohnes wieder verschlingt. Wer trotzdem selbständig wird, ist ständiger Verfolgung ausgesetzt: Unter dem mitleidigen Titel „Sowjetischer Millionär bittet um Verständnis" berichteten die „Moscow News", wie die profitable Kooperative „Technika" zuerst von einer Regierungskommission, dann vom Finanzministerium, von der Volkskontrolle und so weiter „gefilzt" wurde, um Verdächtiges in der Ge-schäftsgebarung aufzuspüren. Daneben muß die Hälfte aller Kooperativen Schutzgelder an mafiaartige Erpresserbanden zahlen: Die „Literaturnaja Gazjeta" berichtete, wie Gangster einen Neureichen in einen Sarg zwängten und diesen zu zersägen begannen, bis das Opfer bereit war die „Abgabe" zu leisten.
Daneben gibt es noch die kriminelle Verflechtung des Staatssektors mit dem Privatsektor: Die Staatsbetriebe geben Vertragsarbeit an die Kooperativen weiter, ohne daß etwas wirklich produziert wird. Die fingierte Rechnung zahlt der Staat, die Beute teilt man sich 50:50.
Aber viele Kooperativen, sofern sie nicht sowieso von der Mafia angelegt wurden, treiben tatsächlich bedenkliche Geschäfte: Fleisch wird massenweise - unter der Hand - zu staatlichen Preisen aufgekauft und als Schaschlik mit zehnfachem „genossenschaftlichen" Zuschlag weiterverkauft.
Ähnlich wird in anderen Sparten verfahren. Der Ökonom Nikolai Schefow dazu: „Schon die Anfänge der Genossenschaftsbewegung haben vor Augen geführt, daß ohne die Beseitigung des Def izites an materiellen Ressourcen der Übergang zu Marktbeziehungen ziemlich verzerrte Formen annehmen kann." Die Genossenschafter sind weitaus verhaßter als die ungleich korrupteren Wirtschaf tsapparatschiks, die ihre Betrügereien besser abschirmen können. Die ewige Knappheit an Rohstoffen führt auch dazu, daß die meisten Genossenschaften Kontakte zu Schieberkreisen anknüpfen müssen, um das nötige Material zu bekommen.
Solange die Planwirtschaft existiert, kann der Teufelskreis „Mangelwirtschaft-Schieberei-Genossenschaften-Mafia" kaum durchbrochen werden. Denn es ist in erster Linie die schwerfällige Wirtschaftsbürokratie, die die Perestrojka zur Farce verkommen läßt. Dieses administrative Weisungssystem ersinnt für jeden Beschluß der Regierung zwecks Sanierung der Wirtschaft Sonderbestimmungen, die den Intentionen der Regierung zuwiderlaufen und diesen schon von vornherein zum Scheitern verurteilen.
Der erste Schritt zum freien Markt wäre also die Entmachtung der Nomenklatura im Wirtschaftssektor. Traut sich Gorbatschow, dieses „wilde Fleisch" herauszuschneiden? Westliche Kreditgeber sollen, bevor sie tief in die Tasche greifen, Bedingungen in diese Richtung stellen!
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