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Marktwirtschaft -„Soziale“ groß geschrieben

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Die Bereitschaft, ja: das Bedürfnis, unsere Wirtschaftsordnung neu zu Überdenken, wurde geradezu über Nacht wieder aktuell. Viele waren mit Karl Schiller der Meinung, die globale Nachfragesteuerung im Wege der staatlichen Fiskal- und Geldpolitik wäre die Symbiose zwischen dem „Freiburger Imperativ“ nach Wettbewerbssteuerung und der „Keynesschen Botschaft“ zur Erhältung der Vollbeschäftigung und das System wäre damit als „aufgeklärte Marktwirtschaft“ in eine neue Phase getreten.

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Die Bereitschaft, ja: das Bedürfnis, unsere Wirtschaftsordnung neu zu Überdenken, wurde geradezu über Nacht wieder aktuell. Viele waren mit Karl Schiller der Meinung, die globale Nachfragesteuerung im Wege der staatlichen Fiskal- und Geldpolitik wäre die Symbiose zwischen dem „Freiburger Imperativ“ nach Wettbewerbssteuerung und der „Keynesschen Botschaft“ zur Erhältung der Vollbeschäftigung und das System wäre damit als „aufgeklärte Marktwirtschaft“ in eine neue Phase getreten.

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Mit der Rezession der mittleren siebziger Jahre aber wurde das Scheitern der „Machbarkeit“ des Wirtschaftsablaufes offenkundig. Das Versagen der französischen Pla-nification, das Scheitern eines zu unelastischen und auf Uberliquidität und damit Unstabilität angelegten internationalen Währungsssystems sowie der Ruf nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung und nicht zuletzt die Krisensituation des überforderten Wohlfahrtsstaates und einer wachstumseuphorischen Wirt-' schaft - das alles hat weltweit zu grundsatzlichen Überlegungen und weit über. den deutschen Sprachraum hinaus zur Wiederbesinnung auf die Konzeption Anlaß gegeben, die an der Wiege der D-Mark gestanden ist.

Auch die neuen Bemühungen um eine Aktualisierung der katholischen Sozialprinzipien und des evangelischen Sozialdenkens sind Ausdruck einer bemerkenswerten Renaissance des „Denkens in Ordnungen“ nach Walter Eucken. Wo liegt der Ausweg aus der Sackgasse desillusionierter globaler „Grob“- und „Fein“-steue-rung: in der selektiven Steuerung der Investitionstätigkeit durch den Staat oder in einer neu durchdachten Reorganisation der Steuerung über den Markt?

Mehr Markt oder

mehr Bürokratie?_

Bei der Suche nach der optimalen Wirtschaftsordnung geht es heute zunächst um die Frage nach der zweckmäßigsten Organisation zur Koordinierung des einzelwirtschaftlichen Verhaltens der Betriebe und Haushalte. Dies ist weniger eine Frage des Glaubens als eine Frage der Vernunft.

Der Markt wird heute nicht nur unter politisch-ideologischen Gesichtspunkten gesehen - als Instrument freiheitssichernder Gewaltenteilung und Dekonzentration der Macht und als wirtschaftliche Entsprechung des demokratischen Wahlrechts im modernen Staat -, sondern vor allem von den Organisationstheoretikern auf der Suche nach einem Wirtschaftssystem, das Konflikte im Interesse des Ganzen löst, technische Produktivitätsfortschritte am raschesten verteilt, Knappheits- und Überschußsituationen am reibungslosesten überwindet, komplexe Probleme auf überschaubare reduziert, Neuerungen größtmögliche Chancen gibt, d. h. den Anpassungsprozeß beschleunigt, Verluste minimiert und damit für möglichst effiziente Produktion und Verteilung Sorge trägt.

Die beiden Organisationsprinzipien, die dabei einander gegenüberstehen, sind der Markt und die Bürokratie. Dabei wird nicht die Organisationsform der Bürokratie einer Kritik unterzogen, sondern lediglich ihre Anwendung auf Bereiche, für die sie nicht geeignet ist. Je differenzierter die Lebensverhältnisse werden, um so wichtiger wird es, Bürokratieelemente durch Marktelemente zu ersetzen.

Eine reine Marktorganisation wäre möglich, wenn man die Interessen entweder gleichrichten oder alle Konflikte im Wettbewerb lösen könnte. Soweit das nicht möglich ist, braucht man Bürokratie und damit Staat, d. h. entsprechende Rahmenbedingungen: zur Aufrechterhaltung und unentwegten Neubelebung des Wettbewerbs, zur Schaffung einer strengen Währungsordnung, zum Schutz von Gesundheit und Umwelt, und nicht zuletzt zu einer breiteren Streuung der Vermögensbildung.

Da ist vor allem aber ein Bereich, dessen Probleme durch Wettbewerb sicherlich nicht gelöst werden können: die Lebensbedürfnisse derer, die auf dem Markte weder Waren noch Leistungen anzubieten haben -noch nicht oder nicht mehr, vorübergehend oder überhaupt nicht. Für diese muß im Wege einer „zweiten“ Einkommensverteilung (Krankenkasse- und Transferzahlungen, Pensionen, Familienbeihilfen, Krankenkassen- und Arbeitslosenversicherungsleistungen usw.) gesorgt werden.

Diese Leistungen sind keine Geschenke des Staates, sondern - wie der Name schon sagt- die Kassen des Staates oder entsprechender Selbstverwaltungskörperschaften durchlaufende Gelder, die sich die öffentliche Hand zur Korrektur der ersten, auf dem Makrt stattfindenden Einkommensverteilung beschafft.

Diese „zweite“ Einkommensverteilung ist für das ganze System der Sozialen Marktwirtschaft ebenso wichtig wie die Organisation der Wirtschaft mittels des Marktes als dem denkbar besten Instrument möglichst effizienter Nutzung der ökonomischen Ressourcen.

Es gab und gibt immer noch solche, die meinen, das Attribut „sozial“ sei hier ein bloßes Füllwort, gleichsam eine psychologische Beruhigungspille, da die Markt- und Wettbewerbsordnung schon aus sich heraus sozial wirke. Sicherlich ist eine solche Funktion schon des Wettbewerbs allein nicht zu übersehen.

Das allein aber wäre zu wenig. Das Attribut „sozial“ darf nicht als beschreibend, sondern muß als spezifi-

zierend verstanden werden: als System einer solchen wettbewerbsgesteuerten Wirtschaft, deren Ergebnisse bewußt zum Gegenstand einer zweiten, diese korrigierenden Verteilung gemacht wird.

Ich plädiere dafür, dieses Wort „Soziale“ groß zu schreiben - nicht nur seiner konstitutiven Bedeutung wegen, sondern auch, um damit die „Soziale Marktwirtschaft“ als eigenständiges System gegenüber der „reinen Marktwirtschaft“ abzuheben.

Die SPÖ ignoriert den dritten Weg

Die Ableitung des Systems aus der Steuerung von Produktion und (Erst-)Verteilung über den Markt (zwecks optimaler Effizienz) und aus der zweiten Verteilung der so erzielten Einkommen (aus sozialer Verantwortung) ignorieren diejenigen, die meinen, diese Bezeichnung sei ein Widerspruch in sich, da der Markt nicht sozial wäre.

Diese Taktik des Ignorierens des fundamentalen Unterschiedes zwischen „freier Marktwirtschaft“ und „Sozialer Marktwirtschaft“ liegt wahrscheinlich von den österreichischen Sozialisten (die deutschen sind da etwas vorsichtiger) bis hin zur Katholischen Sozialakademie allen Versuchen zugrunde, diesem Wirtschaftssystem die Anerkennung- als „dritten Weg“ zu versagen.

Der Wildwuchs der zweiten Einkommensverteilung bis in die Sackgasse des Verordnungsstaates ist sicherlich historisch-pragmatisch bedingt, aber auch eine Folge der dahinterstehenden unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Leitbilder und eine Folge des Theoriedefizits der Sozialen Marktwirtschaft, das aus manchen Fehlentwicklungen (Neue Soziale Frage, Bumerangeffekte, Finanzierungsgrenzen, Leistungsfeindlichkeit, „Trittbrettfahrer“ des Wohlfahrtsstaates) erkennbar wird.

Nicht jeder Eingriff in die marktwirtschaftliche Einkommensverteilung ist schon geeignet, soziale Probleme zu lösen. Kürzlich hat Wolfgang Stützel für „mehr systemverbessernde Fundamentalkorrektur statt kurzsichtig-punktueller Symptomtherapie“ auch in der Sozialpolitik plädiert, etwa für direkte Transferzahlungen an die Bedürftigen statt „sozialer“ Preise, Mieten, Löhne, Produzentensubventionen, schließlich Finanzierung der Sozialleistungen über die Solidargemeinschaft statt über den Betrieb, sowie zumutbare Selbstbeteiligung.

Zur Abgrenzung gegenüber der „Freien Marktwirtschaft“ (als Ordnungssystem!) hegt die Gretchenfrage im Bekenntnis zur zweiten Einkommensverteilung, zur Abgrenzung gegenüber einer punktuell interventionistischen Marktwirtschaft in der Ausarbeitung systemgerechter Grundsätze, und bei der Abgrenzung gegenüber der Investitionslenkung ist der Vorrang der Selbstbestimmung im Betrieb vor der bürokratischen Fremdbestimmung das entscheidende Kriterium.

Die Beurteilung des Systems der Sozialen Marktwirtschaft vom Standpunkt der christlichen Soziallehre ist bislang noch uneinheitlich. Ihre geistigen Väter wie A. Müller-Armack, W. Röpke, A. Rüstow, O. Veit u. a. haben unermüdlich betont, daß hier gegenüber den beiden historisch gescheiterten Wirtschafts- und Sozialordnungen - dem individualistischen Liberalismus und dem kollektivistischen Sozialismus - ein „dritter Weg“ gefunden wurde, der Freiheit und Ordnung in einer Synthese verbindet.

Für die „Sozialfunktion des Wettbewerbs“ (J. Messner) gibt es seit dem Ordo-Denken der Scholastik eine katholische Tradition. Das alles hat offizielle Interpreten zu sehr positiven Stellungnahmen veranlaßt. Nach der Meinung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach kann die Soziale Marktwirtschaft aus den Ordnungs- und Gestaltungsvorschlägen der katholischen Gesellschaftslehre heraus als eine humane Ordnung geformt werden, die die Grundwerte von Freiheit und Gerechtigkeit zugleich verwirklicht.

In der wie hier verstandenen Sozialen Marktwirtschaft kann sicherlich ein Leitbild gesehen werden, an welchem noch manches verbessert und vieles konkretisiert und entwickelt werden muß, das systemverbessernd und daher bis zu einem gewissen Grad auch systemverändernd wirken soll und dessen Realisierung im einzelnen sicherlich noch manche Variante offen läßt.

Unter den heute gegebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umständen aber kann in der hier skizzierten Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft wohl eine vergleichsweise den christlichen Sozialprinzipien in Staat und Wirtschaft sehr nahe kommende Konkretisierung gesehen werden. Ja, es gibt heute keine, die ihren sozialethischen Anliegen näher käme und daher ein theoretisches und politisches Engagement mehr lohnte.

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