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Marokkanisches Entscheidungsjahr

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In Marokko scheint die schlimmste Unrast vorüber. Neuwahlen, Saharafrage und vor allem wirtschaftliche und soziale Notstände diktieren König Hassan aber erst recht ein Entscheidungsjahr.

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In Marokko scheint die schlimmste Unrast vorüber. Neuwahlen, Saharafrage und vor allem wirtschaftliche und soziale Notstände diktieren König Hassan aber erst recht ein Entscheidungsjahr.

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König Hassans seit einem Vierteljahrhundert durchexerzierte Politik der Härte hat auch diesmal wieder den marokkanischen Teuerungsunruhen vom Jänner ihren besonders dramatischen und tragischen Anstrich gegeben.

Zum Unterschied von Tunesien, wo die Zusammenstöße mit Polizei oder Militär und ihre Opfer wenigstens publik wurden, haben Hassans berberische Staatsschützer die Demonstranten samt Frauen und Kindern einfach mit Maschinengewehren niedergemäht, während über alles eine Nachrichtensperre verhängt und mit Hausarresten und Ausweisungen sogar auf die Auslandskorrespondenten ausgedehnt wurde.

Mit dieser Vertuschungstaktik hängt es auch zusammen, daß das ganze Aufbegehren gegen den Polizeistaat Marokko nach wie vor als ein verhältnismäßig lokaler Vorgang im Norden des Landes erscheint. Auch der König hat Schmuggler und andere asoziale Elemente dieses vor der Unabhängigkeit von 1956 spanisch besetzten Gebietes für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht. Sicher hat der traditionelle Freiheitswillen der Rif-Kaby-len dazu beigetragen, daß die Revolte hier besonders heftig und mutig vorangetragen wurde.

Zum Unterschied von den mittelmarokkanischen Berbern, die den Löwenanteil von Hassans Soldaten, Gendarmen und Politikern der königstreuen „Volksbewegung" stellen, stehen die früher vom Scherifen in Tetuah regierten Kabylen dem „König des ganzen Magreb" in Rabat recht kritisch gegenüber. Dazu ist in ihren Städten während der letzten dreißig Jahre eine starke Arabisie-rung und Re-Islamisierung erfolgt.

So gehen die Berberfrauen in den Hochburgen des Rif, in Che-chaouen zum Beispiel, jetzt erstmals in ihrer mehrtausendjährigen Geschichte verschleiert. Ara-bismus und Islamismus sind natürlich keine Freunde des feudalen, westorientierten Regiments von Hassan II. Hingegen muß seinem Vorwurf der Asozialität insofern recht gegeben werden, als hier besonders die Jugend dem Haschisch beziehungsweise Kif verfallen ist.

Dennoch war die jüngste marokkanische Unrast weit mehr als ein isoliertes Aufbegehren unter den Rif-Kabylen. Nador und Al-Hodscheima haben nur deshalb allein Schlagzeilen gemacht, weil die Ereignisse von dort in der nahegelegenen spanischen Enklave Mellila zur Gänze bekannt geworden sind.

Es gilt jedoch inzwischen als sicher, daß sich Ahnliches in fast allen marokkanischen Städten abgespielt hat. Mit zwei charakteristischen Ausnahmen: Die erste war Marokkos Haupt- und Residenzstadt Rabat, wo ständig besonders strenge Sicherheitsvorkehrungen in Kraft sind. Der zweite Fall erstaunlicher Ruhe und Ordnung ist Casablanca, das sonst immer „das" Zentrum der Linksopposition und 1981 Schauplatz der ersten großen Hungerrevolte war. Doch waren diesmal gerade hier zur Islamischen Gipfelkonferenz die meisten Polizei-und Armee-Einheiten zusammengezogen.

Dieser Gipfel sollte von den Demonstranten und Streikenden auf ihre rapid zunehmende wirtschaftliche Not aufmerksam gemacht werden. Diese Zeitwahl verrät eine sorgfältige und koordinierte Vorbereitung der Manifestationen aus dem Untergrund und erklärt außerdem das verhältnismäßig späte Einsetzen der Protestwelle im Vergleich zu Tunesien.

Wie dort waren die Teuerungen schon zum Jahresanfang in Kraft getreten, in beiden Fällen auf Drängen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Für Marokko waren das Auflagen zu einer kurzfristigen Finanzhilfe über 535 Millionen Dollar, die dem infolge von Saharakrieg und Phosphat-Baisse bankrotten Königreich aus seiner akuten Zahlungsunfähigkeit heraushelfen sollen.

Langfristig versucht nun Hassan sein Land, aber vor allem den eigenen Thron, durch eine Kombination von Einsparungen, Verbreiterung seiner Regierungsbasis und neuen außenpolitischen Ablenkungsmanövern zu retten. Schlüsselfigur in diesem Prozeß ist sein derzeitiger, an die Spitze einer Allparteienregierung gestellter und mit Durchführung der Neuwahlen beauftragter Regierungschef Lamrani. Er hatte der Machterhaltung des Königs schon einmal 1971/72 als außerparlamentarischer Ministerpräsident und Urheber der ständischen Verfassung vom 1. März 1972 gedient.

Die arabisch-sozialistische Isti-klal-Partei und sogar die Linkssozialisten von der „Nationalen Union der Volkskräfte" (UNFP), die Lamrani damals gemeinsam als Nationaler Block bekämpft hatten, sitzen zwar heute in seiner Regierung. Ihr Sparprogramm ist aber nach Zurücknahme der Teuerungsbeschlüsse durch Hassan II. schwer angeschlagen. Außerdem nützt es dem König wenig, wenn er den inzwischen zur UNSP umbenannten UNFP-Chef Abdel Rahim Bouabid im Kabinett sitzen hat, dessen Anhängerschaft aber weiter die Revolution probt.

Hassan II., für den der Ausgang der Revolte keineswegs wie bei Bourguiba von Tunesien in spontanen Jubel umgeschlagen hat, versucht es daher jetzt mit dem Einigungseffekt nationaler Begeisterung.

Schon im Herbst 1975 war ihm das mit dem „Marsch der Hunderttausend" in die Westsahara gelungen. Inzwischen hat sich der dortige Kampf gegen die „Frente Polisario" jedoch zu einem Bume-rang entwickelt, dessen finanzielle und soziale Folgen die jetzige Krise heraufbeschworen haben. Von ihnen und der bevorstehenden Aufgabe des Sahara-Abenteuers versucht der König nun durch seine Kampagne zur Gewinnung der seit Jahrhunderten spanischen Städte Ceuta und Meilila abzulenken.

Die kleinen Enklaven würden Marokko sicher keine Partisanen- und Entwicklungsprobleme wie Rio de Oro bereiten, ihre Besitznahme vor allem die letzten nördlichen Lücken in Hassans polizeilichem Machtsystem stopfen. Auf die Dauer können Marokkos Probleme aber einfach nicht mehr durch Unterdrückung, ein gelenktes Parteiensystem und Expansionsdrang allein verdeckt werden.

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