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Martyrium und Zeugnis

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Als 18jähriger Warschauer, angestellt beim Roten Kreuz, wurde ich am 10. September 1040 Opfer einer SS- und Polizeirazzia: Festgenommen, nicht vernommen, am 22. September stand ich bereits auf dem Appellplatz in Auschwitz mit dem roten Winkel als politischer Häftling Nummer 4427.

Die SS-Leute suchten ein Opfer. Ein Lehrer aus einem Gymnasium in Warschau, neu im Lager. Ich weiß nicht, was er gemacht hatte, viel leicht stand er nicht gerade, was auch immer, es war nichts Besonderes. Die Kapos zerrten ihn nach vorne, wir haben es alle gesehen, die paar Tausend, und ich war dabei. Die Nummer 4427, Bartoszewski, sah zu, sah es deutlich, ich sehe es noch jetzt. Sie haben diesen Lehrer geprügelt und gefoltert. Er fiel, er lag, er wurde ohnmächtig, er blutete.

Ich weiß nicht, ob er totgeschlagen wurde, mir schien, er war tot. Es dauerte zehn, vielleicht 15 Minuten. Hier standen etwa 5.000 Männer. Stramm in Hab-acht-Stellung. Und wir waren Zuschauer, und niemand hat etwas unternommen. Und ich war da, und ich habe auch nichts gemacht, und das empfinde ich noch heute als die Scham meines Lebens, obwohl ich das alles verstehe.

Was kann man durch Angst in ein paar Stunden erreichen! Wie kann in so kurzer Zeit ein Mensch so erniedrigt werden?...Das war ein ganz bewußt inszeniertes Schauspiel. Erreicht wurde ein Zieh Wir hatten Angst.

Und meine Entlassung an dem kühlen Apriltag 1041, als ich ...vollkommen verunsichert und verwirrt mit einigen anderen politischen Häftlingen, die am gleichen Tag entlassen werden sollten, in die Schreibstube gegangen war...Frei? Frei von Auschwitz wurde ich eigentlich bis heute nicht. Das darf man nicht vergessen.

Ich habe nachher versucht, im Rahmen des Möglichen meine Pflicht zu tun. ..Trotz allem war mir klar, daß meine Möglichkeiten, etwas wirklich Wirksames tun zu können, äußerst begrenzt waren.

In meiner Auschwitz-Zeit von September 1040 bis April 1941 habe ich im Lager nur einzelne Juden getroffen, damals waren vor allem Polen die Opfer, und niemand von uns konnte sich so etwas vorstellen: die Entscheidung der Ausrottung eines ganzen Volkes.

Kann sein, daß in allen anderen Vernichtungslagern zusammen...insgesamt mehr Juden auf grausamste Weise planmäßig ermorde twaren als in Auschwitz-Birkenau selbst. Der Name Auschwitz ist trotzdem, als pars pro toto, für die ganze Welt das eindringlichste Symbol der Menschenvernichtung, insbesondere der Juden Vernichtung geworden (siehe dazu Seite 6)...

Die historische, politische, theologische und philosophische Literatur über Auschwitz umfaßt heute einige tausend Bände und noch viel mehr kleinere Beiträge in allen europäischen Sprachen...Trotzdem bleibt das Ganze auch für die neuen Generationen unfaßbar, unbegreifbar, fast unglaublich. Es bleibt also wichtig, konkrete historische Angaben in Erinnerung zu bringen, um kurz mindestens die wichtigsten Fakten zur Geschichte von Auschwitz darzustellen...

Die planmäßige Durchführung des Verbrechens, das im Nazi-Jargon den Namen „Endlösung der Judenfrage“ trug, im Lagerkomplex Auschwitz erfolgte im Prinzip auf dem Gelände des Lagers Birkenau ab Frühjahr 1942...

Die biblische Stadt Sodom wurde nicht gerettet, weil zehn Gerechte fehlten. „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, sagt eine der Weisheiten des Talmuds. Das christliche Europa von heute hat die Chance der Verarbeitung der Vergangenheit und der Lehre aus der Geschichte. Diese Chance besteht nur in der Anerkennung des eigenen Versagens, des Mangels an Gerechtigkeit, an Toleranz und Zivilcourage in der Politik.

Auschwitz steht als bedrängendes Symbol dafür, wohin solches Versagen führen kann. Auschwitz verpflichtet uns alle zur Besinnung und zur Erziehung der neuen Generationen aller Völker im Geiste der Menschenachtung, im entschlossenen Engagement gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und negatives Pauschalurteil über den .Anderen“.

Die mutigen guten Taten, die es damals auch gab, die Ausnahmefälle und die Opferbereitschaft der einzelnen müssen uns Vorbild bleiben. Denn wenn so etwas wie der Fluch der bösen Tat existiert - was wir oft glauben - dürfen wir auch auf den Segen der guten Taten vertrauen und an diesem Segen durch unsere Haltung teilnehmen.

Auschwitz wird ein Symbol des unbegreiflichen Bösen und der unbegreiflichen Unmenschlichkeit bleiben. Für die Juden in der ganzen Welt, für das polnische Volk, das mit hunderttausenden Märtyrern seine Leidensgeschichte in der Zeit des Zweiten Weltkriegs symbolisch mit Auschwitz verbunden fühlt, aber auch für andere Völker, für alle denkenden und fühlenden Menschen, für die ganze Menschheit

Der Autor, polnischer Historiker, Friedensträger des Deutschen Buchhandels 1986, lebt heute in der Bundesrepublik.

Der Beitrag ist ein stark gekürzter Vorabdruck aus „Erlittene Geschichte und unsere Zukunft“ und stammt aus: AUSCHWITZ-BIRKENAU. Eine Erinnerung, die brennt, aber sich niemals verzehrt. Fotos von Adam Bujak. Texte von Wla-dyslaw Bartoszewski, Jean-Marie Lustiger, Rita SüBmuth, Hie Wiesel. Verlag Herder, Freiburg 1969.120Seiten, öS 23Z40. Der Band erscheint im Oktober.

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