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Marx in der christlichen Demokratie

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„Anders gesprochen: Die Verwendung des von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten gesellschaftskritischen Instrumentariums in Kombination mit der neomarxistischen Methodik der Frankfurter Schule darf für eine moderne christliche Demokratie kein Tabu sein.“ Aus: „Christlich-demokratische Doktrin und zeitgenössische Kultur“ von Peter Diem, abgedruckt in „panorama“,

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„Anders gesprochen: Die Verwendung des von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelten gesellschaftskritischen Instrumentariums in Kombination mit der neomarxistischen Methodik der Frankfurter Schule darf für eine moderne christliche Demokratie kein Tabu sein.“ Aus: „Christlich-demokratische Doktrin und zeitgenössische Kultur“ von Peter Diem, abgedruckt in „panorama“,

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Die zitierte christlich-demokratische Doktrin ist kein Programm der christlich-demokratischen Parteien oder einer dieser Parteien. Der richtige Stellenwert der fraglichen Doktrin geht aber aus folgenden Tatsachen hervor: Erschienen ist der Aufsatz Peter Diems in dem vom „Internationalen christlich-demokratischen Informations- und Dokumentationszentrum“ herausgegebenen politischen Magazin „pano-rama“, dessen Direktor kein Geringerer als Mariano Rumor ist. Peter Diem wird den Lesern als „Direktor der Abteilung für ideologische Untersuchungen der ÖVP“ vorgestellt. Für mich entsteht darnach folgende Frage: Ist die von Peter Diem, also vom zuständigen hauptberuflichen Funktionär in der Zentrale der ÖVP, vertretene Doktrin mit dem „Salzburger Programm“ der ÖVP von 1972 vereinbar oder zeigt Peter Diem eine in der christlichen Demokratie auftretende Wertdifferenz auf, die vor allem auch die ÖVP angeht?

Die Neue Linke und die ÖVP

Peter Diems Doktrin ist nicht im Jahre 1973 aus der flachen Hand gewachsen. Sie ist eines der Nachprodukte der Marx-Rennais-sance der sechziger Jahre, die bekanntlich die Nachwuchsorganisationen aller politischen Parteien nach links versetzt hat. Damals wurde auch die im Vorfeld der ÖVP bestehende Hochschülerorgamsation, die österreichische Studenten-Union (ÖSU), gründlich. umfuaJitaTuert. Neues politisches Ziel der ÖSU sollte es sein, die österreichische Linke ..links zu überholen“. Kader zur Bewerkstellung dieses Uberholmanövers waren vorher in der Katholischen Hochschuljugend und im CV entstanden. Das inzwischen eingestellte Informationsblatt IBI (Immer besser informiert), herausgegeben von der Zentrale der ÖVP, schilderte damals, wie eine den „alten Herren“ folgende Generation im CV die Politik der „alten Herren“ (es war die Zeit der ÖVP-Allein-regierung) als „reaktionär, kapitalistisch und imperialistisch“ disqualifiziert und deren „Konfessionalität“ als indiskutabel hingestellt habe. Neues politisches Leitbild der ÖSU sollte eine „progressive Mitte“ sein. IBI billigte diesem Experiment zu, daß dadurch auch in Österreich, dessen Studentenschaft in der Vergangenheit mehrheitlich „rechts“ stand, eine Annäherung an europäische und außereuropäische Staaten zustandegekommen sei, deren Intelligenz in der Regel „links“ bis „weit links“ zu stehen pflegt. Nach 1945 hatte die ÖSU und deren Vorgängerinnen tatsächlich eine kompakte Mehrheit in der österreichischen Hochschülerschaft zu stellen vermocht. Kurz nach erfolgter „Um-funktionierung“ der ÖSU konnte „panorama“ bereits des weiteren aus Österreich berichten, daß der 1971 stattgehabte 14. außerordentliche Bundesparteitag der ÖVP jener Tradition eine Absage erteilt habe, die „seit Jahrzehnten für die Christlich-soziale Partei und später auch für die österreichische Volkspartei verbindlich war“. Mit dem damals zurückgetretenen Bundespartei-obmann Hermann Withalm sei nämlich „der letzte Repräsentant des prononciert christlichen Lagers aus der Führung der Partei ausgeschieden“. Im Jahr darauf, 1972, deklarierte sich die ÖVP in ihrem „Salzburger Programm“ ausdrücklich als die „Partei der fortschrittlichen Mitte“. Linksgedrallte Politologen, wie Anton Pelinka, zeigten sofort die Leere der Begriffshülse „fortschrittliche Mitte“ auf. Die so festgestellte Malaise wurde um so größer, als sich schließlich alle im österreichi-

schen Nationalrat vertretenen politischen Parteien, also die SPÖ, die ÖVP und die FPÖ, als auf den Boden einer politischen Mitte befindlich stehend, den Wählern empfahlen. Dem Wähler wurde die Qual der Wahl oft nur noch dann erleichtert, wenn sich eine Partei durch die hervorstechende Qualität ihres Spitzenkandidaten auszeichnete.

Die SPÖ hielt auf ihrem Parteitag 1972 die Frage, wie weit sie inzwischen nach rechts abgekommen ist und wo sie noch Linkspositionen behauptet, unter Verschluß. Mit gekonnt vorgetragenen Formeln wie: sowohl/als auch oder weder'noch oder liberal und sozial, verstand es

die FPÖ eine Zeitlang, einen politischen Balanceakt über der Mitte anzudeuten. In christlich-demokratischen Parteien, also nicht nur in Österreich, glaubten Teile einer jungen Generation bei der Suche nach neuen Profllierungs-, Ventil- und Alibifunktionen einer fortschrittlichen Mitte auf jenen scheinbar unbestreitbaren „Nachholbedarf an marxistischen Theorien“ zu stoßen, den unter anderen Peter Diem, wie einleitend erwähnt, feststellt.

„Überlesen“

Peter Diem geht bei seiner Ziehung nach links erstaunlicherweise von einer „Dynamisierung der katholischen Soziallehre“ aus. Erstaunlicherweise deswegen, weil der Verfasser der Doktrin des Linkskatholizismus in Österreich, Günther Nenning, dessen publizistischer Mitarbeiter Peter Diem wurde, die katholische Soziallehre als eine Art „Feigenblatt des Kapitalismus“ abtut. Uberlesen hat Peter Diem offenbar, was Paul VI. zum 80. Jahrestag von RERUM NOVARUM (1971) über unverkürzbare Distanzen zwischen der katholischen Soziallehre und Liberalismus sowie Marxismus festgestellt hat. Peter Diem hält es in diesem Punkt mehr mit „nonkonformistischen“ Provinztheologen, die einen „absoluten Konsens über alles und jedes ablehnen“. Unter' besagten Theologen gibt es tatsächlich einige, die eine „Solidari-

sierung“ des Christentums mit dem Marxismus im Auge haben und eine „Vermittlung der bleibenden Differenz“ eher praktisch als theoretisch für möglich halten.

Bei der Agnoszierung der zeitgenössischen Kultur stellt Peter Diem keinen christlichen Kulturbegriff, sondern die marxistischen Begriffe „ökonomische Basis“ und „sozio-kultureller Uberbau“ in Rechnung. Bisherige grausame Ver-irrungen marxistischer Kulturpolitik halten Peter Diem nicht davon ab, der christlichen Demokratie jenes Verhängnis vor Augen zu halten, das ihr erwachsen würde, wenn sie nicht auf die noch einmal hervorgeholten Zusammenhänge zwischen. Basis und Uberbau eingehen würde. Denn, so hält es Peter Diem,

• bei genauer Betrachtung wird die christliche Demokratie sehr bald erkennen, was im Marxismus „generalisierender Ökonomismus, historischer Determinismus, monokausaler Dogmatismus“ ist

• und was „brauchbare, empirisch fundierte und theoretisch zutreffende Gesellschaftsanalyse“.

Die demnach brauchbaren marxistischen Gesellschaftstheorien punkto „sozialer Bedingungen individueller Freiheit und menschlicher Kreativität“ wären, wie eingangs zitiert, für eine moderne christliche Demokratie zu verwenden.

In einem im Anschluß daran in großen Zügen und großflächig entworfenen Bild der Moderne stellt Peter Diem kommentarlos neue Lebensformen wie: Hippiekolonien und auf Rauschmittelkonsum basierende Subkulturen als über Grenzen und Staaten hinweggehende kulturelle Trends fest. Die zeitgenössische Kultur, deren zu Ende gehendes Erlebnis Millionen Menschen vor Augen haben, ist für Peter Diem noch immer Zukunftsvision im Sinne Marshall McLuhans: Die Zeit hat aufgehört... der Raum ist dahingeschwunden ... wir leben in einem globalen Dorf... in einem gleichzeitigen Happening. Peter Diem gibt dieses Bekenntnis angesichts des Finales ab, das sich in der Gigantomie der Kunstausstellungen in Köln, Düsseldorf und Basel ereignet.

Neben Karl Marx und Friedrich Engels sind für Peter Diem die Uralten aus dem 19. Jahrhundert, jene Greise, die unlängst die Revolution ihrer Jugend von 1918 vollenden wollten (Marcuse, Horkheimer usw.), kurz: die im Anschluß an Marx entstandene Frankfurter Schule, Garanten theoretischer

Haltepunkte. Auf sie sollt ihr hören, ruft Peter Diem den christlichen Demokraten zu.

Peter Diem versteht seine Doktrin zugleich als positives Programm einer christlichen Demokratie. Dieses „positive Programm“ wird vorweg als fortschrittliches Programm ausgewiesen, obwohl es zu den im 18. und 19. Jahrhundert entwickelten Denkvorstellungen der Marxisten und ihrer Vorläufer zurückkehrt. In der von Peter Diem im Jahre 1973 entworfenen Wertordnung einer christlichen Demokratie ist die „menschliche Person“ Höchstwert. Mit innerer Folgerichtigkeit und einer gewissen Ehrlichkeit vollzieht Peter Diem den Übergang zum Marxismus, indem er nur noch von der immanenten Erlösung von Mensch und Gesellschaft spricht. Peter Diem ist nicht der einzige Demokrat und „Christdemokrat“, der so auf die Gleitbahn gerät, die heute letzthin Moskau kontrolliert.

Zu diesem Bild der Welt nach dem Tode Gottes gehört eine von Peter Diem artikulierte Kulturpolitik, die der Tatsache entspricht, daß die meisten christlich-demokratischen

Parteien kein in sich geschlossenes und auf christlichen Grundsätzen basierendes bildungspolitisches Programm haben; und es oft geschieht, daß solche Parteien wie bellende Hunde hinter der eilig davonziehenden Karawane der Linken streunen. Peter Diems Kulturbegriff berührt die Bereiche des Sittlichen und des Religiösen nur von Fall zu Fall tangential. Eine Legalisierung der Abtreibung ist für Peter Diem ebenso Ziel christlicher Demokratie wie jene der „Sterbehilfe“. Zwar geht Peter Diem auf die Frage Was ist Leben? nicht ein; er rechnet vielmehr mit der Tatsache, daß die Ab-tötung unerwünschten oder lästig gewordenen Lebens „nicht mehr mit starker gesellschaftlicher Verurteilung belegt wird“. Dieser Respekt vor einem „gesunden Volksempfinden“ wurde Christen schon einmal von jenen Glaubensbrüdern zur Beachtung empfohlen, die in Anlehnung an das „positive Christentum“ des Nationalsozialismus eine „Befriedung“ der Beziehungen zwischen Christentum und Nationalsozialismus theoretisch und praktisch zustandebringen wollten.

Im Jahre 1973, nachdem die Welt seit 1945 einige Dutzend bewaffnete Aggressionen des militanten Marxismus erlebt hat, reflektiert Peter Diem im Gegensatz zum Zweiten Vatikanum auf theologische Spekulationen, die den „gerechten Krieg“ für „obsolet“ erklären. Damit wird

der bewaffneten Neutralität Österreichs, Pivot der 1955 übernommenen ständigen Neutralität des Landes, die innere Rechtfertigung genommen und jene wehrpolitische Ineffizienz legitimiert, die die Politik einzelner „Christdemokraten“ auszeichnet. Mit um so größerer Entschiedenheit ruft Peter Diem die „eigenverantwortlichen Demokraten“ zum Kampf gegen „amtskirchliche Moralvorstellungen auf, drängt er auf die Freisetzung „erotischer Energie“, zumal auf künstlerischen Gebieten. Das Finale der kulturpolitischen Visionen Peter Diems ereignet sich in einer „Privatisierung der Moral“, in der unter anderem die „Transformation der Ehe zu einem partnerschaftlichen Vertragsverhältnis“ stattfindet und die fämilien-ferne Erziehung der Kinder ultima ratio der Industriegesellschaft ist. In solchen Zusammenhängen ist von „starker gesellschaftlicher Verurteilung“ nicht die Rede.

Alfred Maleta hat in seinem Vortrag anläßlich der Eröffnung der Politischen Akademie der ÖVP darauf hingewiesen, daß es in den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik der notwendigen Fittings bedarf, die nicht ohne weiteres zur Hand sind. Und daß der übliche unqualifiziert-emotionale Antimar-xismus mit einem solchen Vorhaben nichts zu tun hat. Auf dieses Statement beruft sich Peter Diem bei seiner Hinwendung zum Marxismus. Aber er tut es zu Unrecht. Denn die Doktrin Peter Diems hat nichts mit der Verwissenschaftlichung des Politischen und mit der dementspre-chenden Auseinandersetzung mit dem Marxismus zu tun; sie ist vielmehr eine gewisse Durchtränkung der christlichen Demokratie mit jenem Soziologismus, dessen Kennzeichnung als „wissenschaftlicher“ Sozialismus eine Falschmeldung ist. Mit der Rezeption marxistischen Gedankenguts in die christliche Demokratie hat sich diese, wie unlängst einer der kompetentesten Vertreter der christlichen Soziallehre hervorhob, „zu ihrem eigenen stärksten Feind gemacht“.

Peter Diems christlich-demokratische Doktrin ist keine Alternative zum herrschenden Zeitgeist, also zu den arrivierten Ideen von .gestern. Sie führt zu jenem Appeasement gegenüber, .dem .Marxismus, ;-;der Anfang von Kapitulation und Übergabe ist. In diesem Sinne spricht Peter Diem von einem „Kampf auf verlorenem Posten“, wenn ein Nein der christlichen Demokraten gesagt sein muß, weil ein Ja unchristlich wäre. Mag man darüber streiten, wie bekömmlich die von Peter Diem entworfene christlich-demokratische Doktrin für jene modernen Menschen ist, die weder gläubig noch ungläubig sind, sondern Teil einer amorphen Masse, deren Untätigkeit eine Stabilität vortäuscht. Die Kulturkritik Peter Diems ist ekle-stizistisch; sie beschränkt sich angesichts des Marxismus darauf, dessen Denkvorstellungen zu prüfen und das, was daran scheinbar wahr und wertvoll erscheint, in die christliche Demokratie zu rezipieren. Die von Peter Diem aufgezeigten Kriterien sind zwar nicht geeignet, die christliche Demokratie besser von den sich in der politischen Mitte drängelnden anderen Parteien zu unterscheiden. Um einer intellektuellen Redlichkeit willen sollte aber bei diesem Versuch einer Rezeption des Neomarxismus in der christlichen Demokratie wenigstens der Gebrauch des Eigenschaftswortes „christlich“ für ein marxistisches Unterfangen vermieden werden.

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