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Marx und Moritz...

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Vieles hat sich verändert seit einem Jahr. Erleichterungen bedeuten viel zur Zeit, auch bei den DDR-Behörden. Während Westdeutsche schon lange relativ leicht die Messe in Leipzig besuchen können, trifft dies nun auch für die Westberliner zu, die im vorigen Jahr noch umständlich einen „Berechtigungsschein“ für das Messevisum beantragen mußten, und so kostbare Zeit verloren. Besuche in der DDR sind, das sollte hervorgehoben werden, entbürokratisiert worden.

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Vieles hat sich verändert seit einem Jahr. Erleichterungen bedeuten viel zur Zeit, auch bei den DDR-Behörden. Während Westdeutsche schon lange relativ leicht die Messe in Leipzig besuchen können, trifft dies nun auch für die Westberliner zu, die im vorigen Jahr noch umständlich einen „Berechtigungsschein“ für das Messevisum beantragen mußten, und so kostbare Zeit verloren. Besuche in der DDR sind, das sollte hervorgehoben werden, entbürokratisiert worden.

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Weitere positive Zeichen: die schnelle Abfertigung auf den Transitstrecken und die Möglichkeit für Westberliner, tägliche Ausflüge nach Ost-Berlin (ihnen vorher streng verwehrt und nur Westdeutschen möglich) und in die DDR-Kreise zu machen. Noch nie hat man an einem Sonntagabend einen derartigen Rückkehrerandrang auf der Autobahn nach Berlin am Kontrollpunkt Drewitz/Dreilinden erlebt. Dennoch: vor übermäßiger DDR-Euphorie wird gewarnt.

1973: Nur noch im Frühling

Und wieder einmal Leipziger Buchmesse, das letztemal im Herbst, ab 1973 nur noch im Frühjahr. Ist die Konkurrenz von Frankfurt am Main, die ja keine ist, so drückend, daß viele Aussteller im Herbst gar nicht erst nach Leipzig kommen? Mit 8450 Titeln, davon 2350 Neuerscheinungen, warteten die DDR-Verlage großartig auf. Das „internationale Jahr des Buches“ ist heuer dem

50. Gründungstag der Sowjetrepubliken gewidmet, die 3000 Bücher aus 120 Sowjetverlagen — laut Angaben — vorzeigten. Glücklich das Land, das so viele Bücher (und genau so viele Schriftsteller?) hat!

Was gibt es Neues in den DDR-Verlagen? Der Aufbau-Verlag in Ost-Berlin ediert einen neuen Strittmatter: „Die blaue Nachtigall“, einen Band Erzählungen. Volker Braun ist ebenfalls mit einem neuen Buch präsent: „Das ungezwungene Leben Kasts“, ein Proletarierschicksal, verfolgt über mehrere DDR-Stationen eines bewegten Arbeitslebens. Suhrkamp will, wie man hört, das Buch in Lizenz übernehmen. Günter Kunert, in der Bundesrepublik und der Schweiz längst gut bekannt, stellt neue Gedichte vor mit dem Titel „Offener Ausgang“. Der Verlag für sozialistische deutsche Gegenwartsliteratur, der Mitteldeutsche Verlag Halle, bringt wieder eine Reihe neuer junger Autoren auf den Markt.

Eberhard Panitz wird mit den „Sieben Affären der Dona Juanita“ vorgestellt, in denen der Autor fragt: „Was ist das, Glück, Liebeserfüllung, Gleichberechtigung der Frau? Wieviel Aktivität, wieviel Möglichkeiten billigen wir der Frau selbst dabei zu?“ Die Krise einer geschiedenen DDR-Ehe beschreibt Manfred Jendryschik in „Johanna, oder: die Wege des Dr. Kanuga“. Wolfgang Eckert, ein halbwegs arrivierter DDR-Autor, bringt neue Erzählungen auf den Markt: „Pardon — sagen wir du?“

Zwei „Jubilare“ sollte man erwähnen. Zum 175. Geburtstag Heinrich Heines im Dezember bereitet der Aufbau-Verlag eine zehnbändige Werksausgabe des Dichters vor, die mit Lyrik eröffnet wird. Hans Kaufmann schreibt über die „geistige Entwicklung“ des Ost-West-Streitobjekts namens Heine. Wichtig scheint es auch, auf einen Gedenkband zu Ehren Adam Kuckhoffs hinzuweisen, der 1943 von den Nazis hingerichtet worden ist. „Scherry“, eine Begegnung, kommt im Leipziger Paul-List-Verlag heraus. Kuckhoffs Frau Greta veröffentlicht eine Studie über ihren Mann mit dem Titel „Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle“ im Ostberliner Verlag Neues Leben. Kuckhoffs 75. Geburtstag wurde übrigens in der Bundesrepublik — „traditionsgemäß“ — ignoriert.

Das westdeutsche Bücherangebot schien dieses Jahr wesentlich breiter und repräsentativer zu sein als 1971. Vor allem die Belletristik kam zu ihrem Recht. S. Fischer und Rowohlt belegten — offenbar ein Novum — in Leipzig Einzelstände. Schon in den ersten Stunden waren die westdeutschen Häuser von DDR-Interessenten „leichter“ gemacht: etliche Bände verschwanden für immer spurlos. Nicht ohne hämische, fast möchte man sagen: masochistische Schadenfreude eines westdeutschen Ausstellers. Und was entschwand alles? Sigmund Freud (6 Bände), Kafka, Luise Rinser, Che Guevara, der Kinsey-Report... Selbst ein Karikaturenband aus dem Quer-Verlag mußte dran glauben: „Ma(r)x und Engels“ im Max-und-Moritz-Stil. Soviel Humor hat man in der DDR.

Was denn mit den erwischten Langfingern geschieht, wollte ich wissen. Die würden zur Kripo gebracht und verdonnert: dreimal so hohe Geldstrafe wie der Wert des entwendeten Buches. Von einer Anzeige werde abgesehen. So „human“ sei man in Leipzig. Statt der Kripo hätte man vielleicht das Strafsoll änderen überlassen können: „Ihre Spende für Vietnam“ lautete die unmißverständliche Aufforderung eines gläsernen Behälters, darin nur Ostmark schlummerte. (Man hat's ja schon immer gewußt. So anständig sind die Westdeutschen.) Die Beschlagnahmeaktionen der DDR-Zollbehörden scheinen nun auch der Vergangenheit anzugehören. „Schlimme“ Titel werden von den Ausstellern ja auch gar nicht erst eingepackt, geschweige denn ausgestellt.

Gegengewichte gibt es ja auch. Etwa auf dem tschechischen Stand: Bücher über Antitrotzkismus, selbst über Zionismus, ein unerschöpflicher Einfallsreichtum der tschechischen und sowjetischen Genossen____Apropos CSSR: Belletristik war auch auf dieser Leipziger Buchmesse Mangelware. Dafür reichlich Husäk, Gottwald, Biläk, Svoboda.

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