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Max Frisch: Klassiker inmitten der Moderne

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Daß sich Max Frisch, der am 15. Mai 80 Jahre alt geworden wäre, nicht erst in seinen letzten Lebensjahren mit der Eidgenossenschaft im allgemeinen und deren Armee im besonderen beschäftigt hat, zeigen die in vorliegendem Band versammelten sieben Aufsätze Marcel Reich Ranickis über diesen Dichter. Nicht erst das „Dienstbüchlein" von 1973, in dem Frisch relativ spät seine Militärzeit während des Zweiten Weltkriegs verarbeitete, sondern bereits die beiden Tagebücher (das erste von 1946-1949, das zweite von 1966-1971) beweisen, daß Frisch - anders als etwa Thomas Bernhard über Österreich - ein strenger, aber mit den Worten Reich-Ranickis, „ein umsichtiger und besonnener Kritiker seiner Heimat" war.

Hauptthema seines Werkes war aber nicht die Auseinandersetzung mit seinem Land, sondern die Auseinandersetzung mit dem Ich, mit dessen Gespaltenheit, mit dessen Identitätssuche und -verlust. Dieses Interesse an der Psyche des Menschen, das so wichtige Bücher wie „Stiller", „Homo faber", „Andorra" oder „Mein Name

sei Gantenbein" beherrscht, hat Frisch aber nicht abstrakt verarbeitet, sondern in eine reale Welt, zumeist in die Welt der Künstler und Intellektuellen der Schweiz, hineingestellt. Trotzdem bleiben seine Gestalten Kunstfiguren, mit denen er sich sowohl an „das Menschliche" als auch an die Welt herantasten will. „Wahrheit läßt sich nicht zeigen, nur erfinden", ist ein programmatischer Satz Frischs aus seinem Stück „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie".

So sind es eben auch die ewigen, die klassischen Fragen, die den Schweizer beschäftigen. Liebe, Abhängigkeit, Vergänglichkeit, Tod: nicht nur in seinen Tagebuch-Skizzen, auch in einem seiner schönsten Buchender Erzählung „Montauk" von 1975, geht es darum, wenn auch mit anderen formalen Mitteln als bei den Klassikern wie zum Beispiel Gottfried Keller, mit dem Reich-Ranicki diesen „Klassiker inmitten unserer Gegenwart" vergleicht. Veränderung der Gesellschaft gehörte deshalb nicht unmittelbar zum Selbstverständnis Frischs als Schriftsteller, doch gab er einmal zu bedenken, daß es unrealistisch sei zu meinen, das Werk eines Künstlers ohne didaktische Absicht, bleibe „deswegen ohne Folgen auf die Gesellschaft".

Mit den beiden Erzählungen „Der Mensch erscheint im Holozän" (1979) und „Blaubart" (1972) konnte Reich-Ranicki sich nicht mehr anfreunden, schrieb deshalb über die erste gar nicht und über letztere schlecht. Wie nahezu alle Dichter reagierte Frisch darauf beleidigt. Auch wenn man Reich-Ranickis Urteile, die in bezug auf Frisch sehr überzeugend ausfallen, nicht goutiert, bleibt bei der Lektüre seiner Kritiken stets die Lust auf Literatur zurück - und sei es nur jene, dem Literatur-Papst seine Fehlbarkeit beweisen zu können. Wer Max Frischs Werke kennt, sollte sich Reich-Ranickis Gedanken über diesen großen Schweizer Dichter nicht entgehen lassen.

MAX FRISCH. Aufsätze. Von Marcel Reich-Ranicki. Ammann Verlag, Zürich 1991. 125 Seiten, öS 218,40.

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