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Mediterranes Erbe

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Im Mittelmeerraum wurde nicht nur die Demokratie geboren, im Mittelmeerraum wuchs nicht nur das erste große Weltreich der Weltgeschichte heran (jedenfalls war es viele Jahrhunderte lang im Bewußtsein der Abendländer das erste), der Mittelmeerraum war auch nicht nur Entstehungsort dreier Weltreligionen, von denen eine die Religion des Abendlandes wurde: Heute hat der Mittelmeerraum eine neue Bedeutung für Europa und die Welt. Ein großer Teil jener Krisenherde, von denen immer wieder weltpolitische Erschütterungen ausgehen, liegt am Mittelmeer. Gleichzeitig aber bildet heute das Mittelmeer jenen Raum, in dem nahezu alle Staatsideen geboren wurden; der aber heute ein Gebiet ist, an dessen Küsten mehr Diktaturen als Demokratien liegen. Es gibt, mit Ausnahme von Italien, Frankreich, Israel und dem Libanon, heute so gut wie keine funktionierende Demokratie rund um das Mittelmeer, von Griechenland, wo einst die Demokratie geboren wurde, über die Türkei, wo sie bis vor kurzem hochgehalten wurde, über die Kette der arabischen Staaten, Spanien und Portugal — bis hin zu den kommunistischen Balkanstaaten. (Die Redaktion.)

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Im Mittelmeerraum wurde nicht nur die Demokratie geboren, im Mittelmeerraum wuchs nicht nur das erste große Weltreich der Weltgeschichte heran (jedenfalls war es viele Jahrhunderte lang im Bewußtsein der Abendländer das erste), der Mittelmeerraum war auch nicht nur Entstehungsort dreier Weltreligionen, von denen eine die Religion des Abendlandes wurde: Heute hat der Mittelmeerraum eine neue Bedeutung für Europa und die Welt. Ein großer Teil jener Krisenherde, von denen immer wieder weltpolitische Erschütterungen ausgehen, liegt am Mittelmeer. Gleichzeitig aber bildet heute das Mittelmeer jenen Raum, in dem nahezu alle Staatsideen geboren wurden; der aber heute ein Gebiet ist, an dessen Küsten mehr Diktaturen als Demokratien liegen. Es gibt, mit Ausnahme von Italien, Frankreich, Israel und dem Libanon, heute so gut wie keine funktionierende Demokratie rund um das Mittelmeer, von Griechenland, wo einst die Demokratie geboren wurde, über die Türkei, wo sie bis vor kurzem hochgehalten wurde, über die Kette der arabischen Staaten, Spanien und Portugal — bis hin zu den kommunistischen Balkanstaaten. (Die Redaktion.)

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An einem dieser Tage, da ganz Europa wieder einmal gen Süden zieht, führte mein Weg mich nach Schwechat: nicht etwa um abzufliegen, sondern um Abschied zu winken. Ich selber blieb gern daheim, und zwar für einige Stunden dort östlich von Wien: in Carnuntum. Ich kenne den Landstrich schon seit Jahrzehnten, hab’ ihn mit Schritt für Schritt erwandert; und dennoch entdeckte ich wieder was Neues: Mit den Gedanken bei jenen blechernen Würmern aus Autos, ln denen ich eben noch mitgekrochen war, und bei den pfeifend abschwirrenden geflügelten Menschenbehältem, gerade in dieser noch ganz leibhaftigen Erinnerung spürte ich jetzt wie nie zuvor, daß wir Welt und Menschen kennenlernen nicht auf der Reise in die Weite, sondern nur auf der Reise in die Tiefe.

Wiederum also stand ich, ein paar hundert Meter hinter der Ortschaft Petronell, links von der Straße, wo das flache, von schier römischer Sonne schattenlos ausgeleuchtete Land ganz plötzlich und senkrecht zur Donau abbricht, die in dem verfilzten Auwald da drunten nur stellenweis durchblinkt, als wie ein blankes Metallstück in hohem Gras. Und hier heroben waren einst, vor bald 2000 Jahren, Roms Legionäre, Beamte, Händler gestanden und hatten hinunter gestarrt in dies völlig Undurchsichtige, im doppelten Wortsinn Undurchschaubare, gleichsam und auch tatsächlich aus ordnendem Bewußtsein in rumorendes Unbewußtes. Hier hat die Landschaft sichtbar aufbewahrt den Gegensatz zwischen römischer Klarheit heroben und barbarischem Dschungel da drunten; an diesem Orte lehrt die Anschauung besser als jedes Geschichtsbuch, was damals hier, am

Limes, sich vollzogen hat: die Konfrontation einer niederen mit einer höheren Lebensform.

Und in dieser Anschauung dichtet die Ahnung sich zur Gewißheit, daß dieser Dualismus von Denken und Brüten vorhanden ist immer und überall in der Welt, weil er vorhanden ist in uns Menschen. Wird unser viel zitierter Drang nach dem Süden tatsächlich nur, wie die Reisebüros uns glauben machen, von den Sonnenstränden rund um das Mittelmeer provoziert? Oder drückt er nicht, wenn auch schon nur mehr in äußerster Vulgarisierung, die uralte Hoffnung aus, unseren Befangenheiten zu entrinnen, indem wir uns ihrer, in der Konfrontation, bewußt werden?

Um so bedenklicher müßte dann die Tatsache stimmen, daß Europas Geschicke heute zum erstenmal, seit wir Kunde vom Menschen haben, von jenen zwei großen Staaten bestimmt werden, die nicht nur keinen direkten Zugang zum Mittelmeer, sondern auch kein direktes mediterranes Erbe haben: Rußland und Deutschland, deren Völker — mehr fühlend als denkend, die Seele wider den Geist forcierend, der Religio mehr als der Ratio trauend — ihre deswegen freilich nicht minder bewundernswerte Kultur nicht auf Logik, Grammatik, Mathematik, sondern auf Inbrunst, Intuition und Rausch gegründet haben; nicht auf Witz, sondern auf Gemüt: mit der Sehnsucht nach Inhalten, nicht nach Formen. Werden nun, da die Macht sich vom Mittelmeer in den Norden verlagert hat, auch die Maße dort droben gesetzt? Haben die klassischen Mutterländer der Alten Welt die Fähigkeit, haben sie bloß den Mut verloren, weiterhin prägend zu wirken? Bemerkenswert jedenfalls bleibt, daß Widerstand gegen Binneneuropa vor allem von den mediterran verfärbten Südslawen und den — wie der Name sagt: romanischen — Rumänen sowie, wenn auch mit weniger Glück, von solchen Völkern versucht wird, die einst mit der Donau-Monarchie die geistige Luft des Mittelmeers geatmet haben: ein Phänomen, das mit dem „eigenen Weg zum Sozialismus“ allein nicht erklärt ist.

Mit dem geistigen Niedergang der Mittelmeer-Völker freilich steigt das politische Interesse an diesem Raum; denn nicht bloß militärische, sondern auch zuerst schon moralische Absenzen erzeugen Vakua für das Eindringen fremder Macht: Sogar China hat dort schon Fuß gefaßt, und an den Küsten, vor denen die 6. US-Flotte kreuzt, installiert die Sowjetarmee ihre Raketen.

Und dennoch liefert der Mittelmeerraum auch jetzt noch ein Beispiel von mehr als lokaler Bedeutung: den Palästina-Krieg, recht verstanden als — wie György Se- bestyėn in seinem Israel-Buch dargelegt hat — Aufstand einer präur- banen gegen eine urbane Kultur (weshalb die Chance für wahren Frieden nur in der Urbanisierung der arabischen Welt liegt); recht verstanden als Konfrontation einer niederen mit einer höheren Lebensform.

Der Tourist fliegt darüber hin. Aber ein paar hundert Meter hinter der Ortschaft Petronell, links von der Straße…

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