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Mehr als ein Philologenstreit

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Nicht ohne Genugtuung las der Rezensent, selbst energischer Großschreiber, dieses überparteiliche Bändchen. In ihm sind beide Seiten vertreten, beide kommen gleichberechtigt zu Wort: Anhänger der sogenannten gemäßigten Kleinschreibung wie solche der Großschreibung. Dies gleich vorweg: sie schneiden schlecht ab, die Kleinschreiber. Sie treiben — das wird deutlich — ihre „Reform“ mit sektenhafter Verbissenheit voran; was sind ihre Argumente? Da heißt es, die Sonderstellung der deutschen Sprache sei hinderlich „für eine europäische Integration“ (B. Weisgerber); die Großschreibung erschwere Ausländern das Erlernen der deutschen Sprache (unbekümmert der Tatsache, daß deutschsprechende Ausländer in ' einer Befragung das Gegenteil beteuerten, daß es ihnen nämlich leichter gefallen sei, mit Hilfe der Großschreibung zu lernen); die Kinder der „unteren Schichten“ (G. und S. Bauer) seien durch die angeblich regellos-irrationale Großschreibung der Substantive im Unterricht benachteiligt; schließlich wird allen Ernstes behauptet, literarische Texte, die nur bei korrekter Großschreibung lesbar sind (s. u.) seien ohnehin für's „Volk“ nicht lesens- und somit vergessenswert (G. und S. Bauer). Man staunt zu Recht: ein die eigentliche Bedeutung der Sprache betreffendes Argument fehlt tatsächlich fast völlig. Vielmehr entstammen alle Argumente für eine Kleinschreibung dem Bereich der modischen Sozialwissenschaften und ihrer Verwandten, wie Soziologie, Politologie, Ökonomie, Soziolinguistik, Sprachdidaktik und dergleichen mehr.

Daß es nach der Einführung der Kleinschreibung nicht mehr möglich sein wird, das sprachliche Erbe dreier Länder und mehrerer Jahrhunderte zu lesen, erschüttert dabei keinen der „Reformer“. Wie gesagt, dieses Erbe sei ohnehin für's Volk wertlos — heißt es da. Dabei wäre gerade der Bereich der Literatur ein eigentlich sprachlicher Bereich, dem die Argumente für und Wider Großoder Kleinschreibung entstammen sollten. Nun, die Verfechter der Großschreibung haben es offenbar nicht nötig, in politisch-soziale Sphären zu flüchten; sie bleiben in dem vorliegenden Bändchen bei der Sache, nämlich beim Wort, bei der Sprache. Uberzeugend weist Andreas Digeser nach, daß die Großschreibung nicht nur System hat,, sondern vor allem, daß die deutsche Sprache bei ihrer mit keiner anderen europäischen Sprache vergleichbaren grammatikalischen Sonderstellung ohne die Großschreibung völlig unverständlich würde. Unsere gesamte Syntak-tik ist untrennbar mit der Großschreibung verbunden. Das Aufgeben dieser Großschreibung zöge zwangsläufig tiefgreifende Änderungen nach sich, die die historische Entwicklung der deutschen Sprache willkürlich unterbrächen und eine jähe Kluft zwischen Geistes- und Sprachgeschichte rissen.

Viel wird trotzdem von den Reformern auf das Ausland verwiesen: alle schreiben klein! Will man nicht sehen, daß Engländer oder Franzosen eine gründlich andere Sprache sprechen, in deren System (und nur vollständig darin!) auf Großschreibung verzichtet werden kann? Schlecht wären die deutschsprechenden Völker beraten, schrieben sie in der Zukunft „klein“: die Folge wäre eine „unsichtbare Bücherverbrennung“ (G. Jappe). Und Hebbels nachfolgend als Exempel klein gedruckter Vers endete unweigerlich mit auf dem Scheiterhaufen:

„im kelche der blume, im farbigen nun das stille verschließen, das liebliche ruhn!“

Oder Joseph Weinhebers Zeilen; „du so zart, abklang aus ahnung und licht, bist nach der edlen art groß im verzieht.“

„Nach welcher Art...?“ so wird man dann in Zukunft zu rätseln haben. Viele solcher Stellen ließen sich zitieren; sie Sind bei eingeführter Kleinschreibung weder sinnbetonend lesbar noch auf Anhieb (oder gar nicht mehr) verstehbar.

Längst nicht zu weit gegriffen ist denn auch die Vermutung, daß ea den „Reformern“ (wie so oft) um mehr geht als um die Abschaffung der Großschreibung. Vielmehr würde diese fragwürdige „Reform“ ein erster Schritt sein, die Diktatur des Mittelmäßigen auch hier zu errichten.

GROSS- ODER KLEINSCHREIBUNG? Beiträge zur Rechtschreibreform. Hrsg. von Andreas Digeser. Vandenhoeck & Ruprecht (Kl. Van-dehoeck-Reihe Nr. 1389). Göttingen und Zürich. 129 Seiten, kart. DM 8.80.

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