Mehr Eigenständigkeit, mehr Rechte
Am 15. Juni 1980 erteilte die Bevölkerung Vorarlbergs ihrer politischen Vertretung in einer Volksabstimmung den verbindlichen Auftrag, mit dem Bund über mehr Eigenständigkeit der Länder und eine Stärkung der Stellung der Gemeinden zu verhandeln.
Am 15. Juni 1980 erteilte die Bevölkerung Vorarlbergs ihrer politischen Vertretung in einer Volksabstimmung den verbindlichen Auftrag, mit dem Bund über mehr Eigenständigkeit der Länder und eine Stärkung der Stellung der Gemeinden zu verhandeln.
Der Anstoß dazu kam aus dem Volk und hatte In ihm ein breites demokratisches Fundament: Schon im Frühsommer 1979 ließ die außergewöhnlich starke Reaktion der Leserschaft auf eine entsprechende Veröffentlichung in einem Vorarlberger Freizeitmagazin aufhorchen. In der letzten Sitzung des XXII. Vorarlberger Landtages, Anfang Juli 1979, meinte der Klubobmann der Freiheitlichen Partei, es gebe eine Reihe von Aufgaben, die „nach Auffassung eines großen Teiles der Vorarlberger Bevölkerung im Lande selbst besser, schneller und sparsamer erfüllt werden könnten“.
Im September 1979 schließlich trat die „Bürgerinitiative Pro Vorarlberg" mit einem ausgefeilten Programm an die Öffentlichkeit. Sein Inhaltlicher Kern, die Forderung nach einer am Subsidiaritätsprinzip ausgerichteten Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, er
gänzt durch eine beispielhafte Aufzählung jener Gegenstände, die jedenfalls den Ländern zu übertragen wären, wurde von den praktisch aus allen sozialen Schichten und beruflichen Stellungen kommenden Mitgliedern der Bürgerinitiative festgelegt. Professionell war das juristische Kleid: Unter Berufung auf das verfassungsrechtlich verbriefte Recht jedes Staatsbürgers, Bittschriften einzubringen, wurde der Landtag ersucht, eine Volksabstimmung über die Frage durchzuführen, ob Vorarlberg im Wege einer Vereinbarung mit dem Bund im Rahmen des österreichischen Bundesstaates ein eigenes Statut erhalten soll. Im ersten Punkt des vorgeschlagenen Statutes war die vorhin erwähnte Grundforderung formuliert, die übrigen Bestimmungen hatten den Zweck, die mit dem Statut angestrebte größere Selbständigkeit des Landes gegenüber dem Bund abzusichern.
Der angedeuteten Stimmung in der Landesbevölkerung entsprach es, daß die Bittschrift der Bürgerinitiative Pro Vorarlberg eine breite Welle der Zustimmung auslöste. Erst mit Fortdauer der Auseinandersetzungen über die schriftlich niedergelegten, aber auch über bloß vermutete bzw. unterstellte Absichten der Bürgerinitiative war auch in der Bevölkerung eine gewisse Distanzierung zu bemerken.
Die politischen Parteien im Lande - und weitestgehend parallel dazu jene In der Bundeszentrale - bezogen unterschiedliche Standpunkte: Die ÖVP versprach die Anliegen der Bittschrift der Bürgerinitiative im Landtag eingehend zu behandeln und im Sinne der seit Jahren verfolgten entschiedenen Politik einer Stärkung der Rechte des Landes tätig zu werden. Landeshauptmann Dr. Keßler stellte freilich klar, daß Landesregierung und Landtag die Forderungen der Bürgerinitiative nicht unbesehen übernehmen würden. Der Landesparteivorstand der SPÖ sah in der Forderung der Bürgerinitiative nach einem eigenen Statut eine Los-von-Wlen-Bewe- gung, beurteilte die Initiative als den Versuch der Zertrümmerung des Rechts- und Sozialstaates in Österreich und wähnte Im Ganzen eine von der ÖVP gelenkte Aktion. Die FPÖ begrüßte die Initiative ohne Vorbehalte.
Die Haltung der in Vorarlberg erscheinenden Tageszeitungen und
des ORF-Studios in Dornbirn war durch die Wettbewerbsverhältnisse dieser Medien untereinander, verbunden mit der Tatsache, daß die Vorarlberger Nachrichten, deren Chefredakteur zu den Unterzeichnern der Bürgerinitiative Pro Vorarlberg gehörte, das Gedankengut der Initiative mit Elan verbreitete, bestimmt. Die Berichte der außerhalb Vorarlbergs erscheinenden Medien deckten ein breites Band ab, das von Zustimmung bis zu gänzlicher Verständnislosigkeit reichte.
In der zweiten Sitzung des im Oktober 1979 gewählten neuen Vorarlberger Landtages überreichten die Klubobmänner der ÖVP und der FPÖ die Bittschrift der Bürgerinitiative Pro Vorarlberg dem Landtag. Den Ankündigungen des Landeshauptmannes entsprechend, beschloß der Rechtsausschuß des Vorarlberger Landtages, Rechtswissenschaftler und Praktiker zu den Fragenkreisen „Stellung der Länder als Gliedstaaten und Kompetenzverteilung“, „Finanzen“ und „Stellung der Länderkammer“ zu hören.
Diese Föderalismus-Enquete des Vorarlberger Landtages hob die wesentlichen Schwächen der österreichischen Bundesstaatlichkeit erneut ins Bewußtsein, erbrachte Vorschläge für deren Beseitigung und ergab zu einem der umstrittensten Punkte der Bittschrift der Bürgerinitiative, dem Verlangen nach einem eigenen Statut für Vorarlberg, eine Klärung.
In der Folge wurden die dem Landesvolk vorzulegende Abstimmungsfrage selbst, sowie die ihrer inhaltlichen Präzisierung dienenden „10 Punkte zur Stärkung der Stellung des Landes (der Länder) und der Gemeinden“ erarbeitet und als gemeinsamer Antrag der ÖVP- und der FPÖ-Fraktlon in die Verhandlungen des Rechtsausschusses eingeführt.
Die Abstimmungsfrage lautete: „Sollen Vertreter des Landes mit dem Nationalrat und mit der Bun
desregierung in - auch anderen Ländern offenstehende - Verhandlungen mit dem Ziel eintreten, im Rahmen des österreichischen Bundesstaates dem Land (den Ländern) mehr Eigenständigkeit und den Gemeinden eine Stärkung ihrer Stellung im Sinne der nachfolgend angeführten 10 Punkte zu sichern?“
An der Spitze der in der Abstimmungsfrage angesprochenen 10 Punkte kehrt die Kernforderung der Bürgerbewegung wieder:
• „Angelegenheiten, die vom Land selbst besorgt werden können, sollen in seine Zuständigkeit fallen, um so die Bedürfnisse der Bevölkerung und die Verhältnisse im Land besser berücksichtigen zu können, die kulturelle Vielfalt zu gewährleisten und die Staatstätigkeit möglichst kostengünstig zu gestalten.“ Die darauf folgende Aufzählung jener Angelegenheiten, in welchen die .Rechte der Länder Insbesondere gestärkt werden sollen, erscheint gegenüber dem vergleichbaren Katalog der Bürgerinitiative in wesentlichen Belangen eingeschränkt.
Die weiteren neun Punkte betreffen
• eine entscheidende Erweiterung der Verfassungsautonomie der Länder,
• die Forderung nach Durchführung von Volksabstimmungen auf der Ebene der Länder, wenn deren Bestand oder grundlegende Rechte angetastet werden,
• die Herstellung einer Gleichordnung zwischen Bund und Ländern bei der personellen Besetzung gemeinsamer Organe (Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof und Rechnungshof) sowie
• bei der wechselseitigen Inanspruchnahme von Organen,
• die Einräumung einer angemessenen, verfassungsrechtlich abgesicherten Abgabenhoheit der Länder,
• die wirksame Einschaltung der Länder und Gemeinden in das Finanzausgleichsverfahren,
• die Schaffung einer festen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden im Bereich der Privatwirtschaftsverwaltung,
• die Stärkung der Stellung des Bundesrates und
• die Verbesserung der Rechte der Gemeinden im Gesetzgebungsverfahren.
Die Verhandlungen im Rechtsausschuß, die mehrere Tage in Anspruch nahmen, endeten mit der Annahme des gemeinsamen Antrages der ÖVP und der FPÖ. Die SPÖ verblieb bei ihrer ablehnenden Haltung, obgleich die Hauptansatzpunkte ihrer Kritik an der Bittschrift der Bürgerinitiative Pro Vorarlberg in den „10 Punkten zur Stärkung der Stellung der Länder und Gemeinden“ nicht wiederzufinden waren; vor allem war die Forderung nach einem eigenen Statut gefallen. Die SPÖ-Fraktion äußerte, die 10 Punkte seien zu unbestimmt, der Bürger wisse nicht worüber er abstimme. Der Mehrheitspartei gehe es allein darum, Ihren Machtanspruch im Lande durchzusetzen. Die der SPÖ angehörenden Mitglieder des Rechtsausschusses legten den von ihnen eingebrachten Alternativvorschlag dem Plenum als Minderheitsbericht vor.
Das 10-Punkte-Programm wurde von der Bürgerinitiative und von den Medien im Lande zustimmend aufgenommen. Ende März beschloß der Landtag die Durchführung einer Volksabstimmung auf der Grundlage der „10 Punkte zur Stärkung der Stellung der Länder und der Gemeinden“. Als Abstimmungstag wurde der 15. Juni 1980 festgesetzt.
Die beiden Parteien, die im Landtag für die 10 Punkte gestimmt hatten, gaben für die Volksabstimmung die Ja-Empfehlung, SPÖ und KPÖ rieten den Abstimmungsberechtigten am 15. Juni mit Nein zu stimmen.
Die Zelt vor der Volksabstimmung gestaltete sich zu einem Abstimmungskampf, aus dem sich die ÖVP als solche mit der Begründung heraushielt, es handle sich bei der Volksabstimmung nicht um die Wahl von Parteien, sondern um die Entscheidung einer Sachfrage. Die Vorarlberger Landesregierung legte ihre Auffassung, wie es das Landes- Volksabstimmungsgesetz vorsieht, in den amtlichen Unterlagen zur Volksabstimmung dar und versuchte den Inhalt des 10-Punkte-
Programms außerdem in Werbetexten den Stimmberechtigten nahezubringen. Die SPÖ suchte mit drastischen Mitteln (Plakat mit zerrissener rot-weiß-roter Fahne), die von den Inhalten, über die zu entscheiden die Bevölkerung aufgerufen war, weitab liegende Meinung zu nähren, wer bei der Volksabstim
mung mit Ja stimme, trete für ein Los-von-österreich ein.
Mit einer gegenüber den Landtagswahlen 1979 um 3,27% geringeren Beteiligung entschieden sich 69,32% der Abstimmenden für das Ja und 30,68% für das Nein. Die Auffassung, daß dieses Ergebnis die Stärkeverhältnisse der politischen Parteien in Vorarlberg widerspiegle, hat den äußeren Anschein für sich. Trotzdem ist Ihr keineswegs vorbehaltlos zuzustimmen. Aus der Nähe betrachtet, spricht einiges dafür, daß sich die Kreise der Ja- bzw. Nein-Stimmenden mit den durch Parteianhängerschaften bestimmten Kreisen überschneiden. Unverrückbar und für die Vertretungsorgane des Landes bindend ist die Tatsache, daß die Abstimmenden zu einem die Zwei-Drittel-Grenze übersteigenden Teil für eine Stär
kung der Länder und der Gemeinden eintraten.
In den Monaten seit der Volksabstimmung haben sich die Vertreter des Landes, insbesondere Landeshauptmann Dr. Keßler, dem Auftrag des Volkes entsprechend, im Bund und in den anderen Ländern mit Nachdruck für die Aufnahme von Verhandlungen über die „10 Punkte zur Stärkung der Länder und Gemeinden eingesetzt“. Eine Reihe von Faktoren, wie die zu beobachtenden parallelen Entwicklungen in anderen Staaten, die einschlägigen Aussagen in den Programmen der österreichischen Parteien, die allseits unbestritten gebliebene Ausgewogenheit der Forderungen der Vorarlberger Bevölkerung und nicht zuletzt die Äußerungen von Spitzenvertretern des Bundes, des Bundeskanzlers und des Nationalratspräsidenten, lassen hoffen, daß es gelingt, über parteipolitische Vorbehalte hinweg zu aufbauenden Gesprächen über eine Stärkung der Bundesstaatlichkeit ebenso wie der Gemeinden zu kommen. Über die tatsächlich dringende Notwendigkeit einer Öffnung des Staates zu seinen Bürgern hin, und darüber, daß die Übertragung größerer Selbstverantwortungsbereiche an die kleineren Gemeinschaften ein geeigneter Weg dazu ist, herrscht Übereinstimmung.