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Die österreichische Demokratie beruht zweifellos auf dem indivi- dualistischen Gedankengut eines Jean Jacques Rousseau, aber kei- neswegs nur auf diesem. Nach Rousseaus Idee der Demokratie sollten die von allen Bindungen freigesetzten Individuen als Volk die Herrschaft ausüben; denn nur wenn Souverän und Volk ein und dieselbe Person wären, sei sicher- gestellt, daß die Herrschaft dem allgemeinen Wohl diene; der Wille der Bürger sei identisch mit dem Gemeinwohl. Damit dieser Wille richtig zum Ausdruck gebracht werden könne, sei es von besonde- rer Bedeutung, daß es im Staat kei- ne Sondergruppen gebe.

Aber dieses Gedankengut hat auch eine etatistisch-totalitäre Konsequenz, wie die unter Berufung auf den Gemeinwillen geübte Schreckensherrschaft der Jakobi- ner 1793/94 gezeigt hat.

Man hat den Eindruck, daß auch heute mitunter Demokratie nur gesehen wird im Antagonismus von Individualitäten und dem Staat.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wir wissen, daß es zwi- schen den einzelnen Bürgern als Individualitäten und der Summe der Bürger als einheitlicher Staats- wille noch etwas anderes gibt und - letztlich im Interesse der Freiheit der Bürger - auch geben muß. Wir können einfach nicht leugnen, daß es auch legitime Teilinteressen gibt, deren Verfolgung und Integration eine Staatsaufgabe ist; die Gesell- schaft kann nicht nur vom Staat her, sie muß auch nach ihrer Inter- essengliederung verstanden und repräsentiert werden.

Diese pluralistische Komponente ist neben der individualistischen und etatistischen Komponente Grundlage des demokratischen Systems der österreichischen Ver- fassung. Das Volk im Sinn des Ar- tikels 1 B-VG, von dem alles Recht ausgeht, ist nicht bloß die Summe der Individuen; es ist ein mehrfach gegliedertes, insbesondere nach Interessenbereichen gegliedertes Volk: das anerkennt die Verfassung, wenn sie die in der Gemeinde ver- körperte örtliche Gemeinschaft als Selbstverwaltung einrichtet oder wenn sie Kammern und gesetzliche Interessen verbände und damit Ein- richtungen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung vorsieht.

Die berufliche und wirtschaftli- che Selbstverwaltung dient einer- seits der Wahrnehmung bestimmter öffentlicher Aufgaben und ande- rerseits der umfassenden Interes- senvertretung, dem Interessenaus- gleich unter Einbeziehung mög- lichst aller relevanten Einzelinter- essen.

Selbstverwaltung aber bedarf - das ist an sich eine Selbstver- ständlichkeit - man muß es aber angesichts der aktuellen politischen Diskussion betonen - der Pflicht- mitgliedschaft. Die spezifischen Funktionen von Gemeinden, Kam- mern und anderen Selbstverwal- tungseinrichtungen sind durch Verbände, die auf freiwilliger Mit- gliedschaft beruhen, nicht zu lei- sten. Beseitigt man die Pflichtmit- gliedschaft, so verzichtet man auf die Selbstverwaltungskonstruktion als solches.

Auch das ist natürlich denkbar: Ob man die Entscheidung darüber den Angehörigen der jeweiligen Selbstverwaltungskörper übertra- gen sollte, sollte noch eingehend erwogen werden. Denn immerhin geht es um allgemeine Strukturf ra- gen unserer Staatsorganisation.

Das System bloß freier Interes- senverbände ist das Modell eines starken Staates. Auch das ist ein legitimes Bild der Demokratie; es ist aber nicht das Bild, das unserer Verfassung zugrundeliegt. Denn wenn unsere Verfassung von Kam- mern und gesetzlichen Interessen- verbänden spricht, dann hat sie diese in ihrer selbstverwaltungs- mäßigen Ausprägung vor Augen.

Es ist ein Gemeinplatz festzu- stellen, daß es auch in einem de- mokratisch-rechtsstaatlichen Gemeinwesen Staatsmacht gibt. Staatsmacht aber muß im Interesse der Freiheit der Bürger in Grenzen gehalten werden.

In der politischen Realität Öster- reichs funktionieren mehrere Me- chanismen in dieser Weise gewal- tenhemmend: es sind dies insbe- sondere die Unabhängigkeit der Ge- richtsbarkeit von den politischen Organen der Gesetzgebung und Verwaltung, die bundesstaatliche Organisation mit der Aufteilung der Staatsgewalt auf Bund und Län- der, das Spannungsverhältnis von Regierung und Opposition und die Einrichtung von Selbstverwal- tungskörpern. Man muß also sehen, daß Selbstverwaltung auch gewal- tenhemmend und damit staats- machtbegrenzeod und auf diese Weise freiheitssichemd wirkt. Die Alternative zur Selbstverwaltungs- konstruktion ist nicht mehr Frei- heit, sondern mehr Staat.

Im System aber sind Verbesse- rungen sinnvoll, ja sogar notwendig: Ich meine nicht nur das Abstellen von Fehlleistungen - von der Be- vorzugung von Gewerkschaftsmit- gliedern bei Serviceleistungen der Arbeiterkammer bis zu persönlich- finanziellen Schweinereien. Ich meine auch nicht bloß das in den Kammern jetzt vielfach propagier- te Verstärken der Serviceleistun- gen und die damit verbundene Erwartung der Imageaufwertung.

Verbesserungsfähig ist gewiß die Transparenz der Willensbildung im Prozeß des Interessenausgleichs. Die demokratische Rückkoppelung der Organe an die Basis (Direkt- wahl der Spitzenfunktionäre, Ab- berufungsmöglichkeiten) könnte sicher ausgebaut werden. Ich ver- misse auch Kontrollmöglichkeiten innerhalb der Selbstverwaltung gegenüber den Spitzenorganen, also etwa der Vollversammlung oder von ihr eingesetzten Ausschüssen ge- genüber dem Vorstand oder dem Präsidium. Einrichtungen der par- lamentarischen Kontrolle könnten hier teilweise durchaus Vorbild sein; warum es etwa nicht in allen Kam- mern eine Einrichtung wie den von der Vollversammlung gewählten Kontrollausschuß im Rahmen der

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