Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Mehr Freizeit - aber weniger freie Zeit
„Das Nacheinander der Dinge, die Abfolge der Geschehnisse", so definiert der 1985 erschienene fünfbändige Brockhaus den Begriff Zeit. Heute scheint diese Abfolge besonders rasch abzulaufen, scheinen die Dinge dichter aufeinander zu folgen. Das Leben der meisten Menschen ist vollgepackt mit Plänen, Begegnungen, Verpflichtungen. Am besten merkt man es, wenn es um eine Terminvereinbarung geht. Da mußte Anfang November unsere Tarockrunde verschoben werden. Das Ergebnis: Nach zahllosen Telefonaten, Rückfragen, Zwischenvereinbarungen nächster Termin Mitte Jänner - wenn nichts dazwischen kommt.
Wie ist dieses Phänomen der Zeitknappheit zu erklären? Genau genommen verfügt ja jeder von uns heute über gleich viel Zeit wie die Generationen vor uns: 24 Stunden stehen uns täglich zur Verfügung. Da die Lebenserwartung gestiegen ist und sich die Schlafdauer physiologisch bedingt nicht dramatisch verändert hat, verfügen wir sogar über viel mehr Stunden als unsere Vorfahren.
Geändert hat sich also die Art, wie wir die Zeit erleben. Wenn wir sagen, wir hätten keine Zeit, so beschreiben wir damit unsere Situation nicht richtig. Wir haben keine Zeit für bestimmte Menschen, für bestimmte Tätigkeiten. Insbesondere haben wir immer weniger nicht im voraus verplante Zeiträume in unserem Leben.
Daß dieser Zustand eingetreten ist, entspricht ganz genau der Logik unseres gesellschaftlichen -sprich wirtschaftlichen - Fortschritts. Dieser zielt auf Wachstum, Effizienz und Rationalisierung der Produktion - aber auch des Konsums - ab. Effizienz ist genau genommen die Anweisung, in einer Zeiteinheit möglichst viel an wirtschaftlich nutzbarer Leistung entstehen zu lassen: „Zeit ist Geld".
Das wiederum erfordert Rationalisierung: Abläufe müssen geordnet, gemessen und normiert werden. Präzision ist Trumpf. Dementsprechend wird die Zeitmessung immer genauer. Seit 1967 definieren atomare Vorgänge im Caesium 133 die Messung der Zeit: Eine Sekunde entspricht 9.192.631.770 solchen Vorgängen.
Planung und Normierung nehmen somit systemnotwendig im Arbeitsbereich zu. Dieser wird daher immer stärker von Terminen, Absprachen, Fristen, funktional notwendigen Abläufen und - weil Zeit ja Geld ist - von Zeitdruck bestimmt. Arbeitszeitverkürzungen haben allerdings die Freizeit in unseren Ländern um einiges verlängert: freie Wochenenden, mehr-Urlaub. Diese Freizeit hat aber einen besonderen Charakter bekommen: Sie ist weniger Zeit der Muße (damit tun wir uns überhaupt schwer, siehe Seite 12) als Zeit der Verwirklichung von Anliegen, die häufig ebenfalls organisiert über die Bühne gehen. So wird etwa das Einkaufen vielfach zu einem komplizierten Vorhaben: Man kauft für die ganze Woche (braucht also einen längerfristigen Plan), will günstig kaufen und muß also Preis-und Produktvergleiche anstellen (erfordert laufende Information). Häufig wird eine Anreise zum Einkaufszentrum angetreten. Dort endlose Staus und Parkplatzsuche. Eingekauft wird anonym, Verkäufer sind rar, also muß man sich selbst zurechtfinden. All das dauert weitaus länger als man vorher geplant hatte.
Endgültig den Nerv ziehen einem dann das Warten in der Schlange vor der Kassa, die Leute, die sich vordrängen, der Vordermann, der unbedingt auf den Groschen genau zahlen will.... Was unter dem Slogan „Shopping macht happy" angepriesen wird, erweist sich, als anstrengende Verrichtung.
Überall wird Unruhe spürbar, wo die Dinge nicht, wie vorhergesehen optimal ablaufen, wenn nicht alles wie am Schnürchen funktioniert. Wir sind an Perfektion gewöhnt und Störungen machen uns nervös.
Perfektion und viel Aufwand auch im Haushalt: Immer mehr spezialisierte Maschinen und Geräte (36 Prozent besitzen eine Werkbank, 74 sogar eine Bohrmaschine!) erleichtern im einzelnen jeweils irgendeine Tätigkeit. Insgesamt aber kosten sie viel Zeit, weil man sie ordnungsgemäß verstauen, warten, putzen, reparieren, richtig handhaben und auch finanzieren muß (Ivan Iiiich hat errechnet, daß die Zeit, die wir für die Kosten eines Autos arbeiten müssen und die wir in ihm verbringen, auf die gefahrenen Kilometer umgelegt ein Durchschnittstempo von vier Stundenkilometern ergibt).
Obwohl wir also über immer mehr arbeitssparende Geräte verfügen, wird die Tätigkeit im Haushalt doch auch wieder aufwendiger. Denn einerseits steht bei allgemein außerhäuslicher Berufstätigkeit weniger Zeit für den Haushalt zur Verfügimg und andererseits wird immer mehr im „Do it yourself'-Verfah-ren erledigt.
Aber nicht nur die Maschinen und Geräte werden immer zahlreicher, gleiches gilt auch für die Anschaffungen, die uns das Leben verschönern sollen: Radio, Plattenspieler, (Kabel-)Fernsehen, Video- und Audiorecorder, der Heimcomputer, Bücher, Platten, Kassetten... Einmal erworben, wollen die Dine auch gebraucht werden. Bei Büchern hat man sich schon damit abgefunden, daß sie immer zahlreicher dekorativ aber ungelesen im Regal stehen. Aber um die Platten und Videoaufzeichnungen ist es doch schade! Dafür müsse man sich wirklich endlich einmal Zeit nehmen. Die Bänder werden ja für den nächsten Nachtkrimi gebraucht.
Dieser Besitz bringt einerseits viel Arbeit (in diesem Zusammenhang ist auch das Wort von der „Konsumarbeit" geprägt worden), er will auch genutzt sein. Und das erfordert nun einmal Zeit: allein das Fernsehen täglich 100 Minuten.
Freizeit ist also durchaus keine wirklich freie Zeit, sondern vielfach der „Konsumarbeit" gewidmet. Sie wird dementsprechend erlebt. Das gilt selbst für den Urlaub. Abgesehen von jenen, die dann endlich jene Arbeiten erledigen, zu denen sie das ganze Jahr hindurch nicht gekommen sind, können sich viele auch in den Ferien nicht ganz frei vom Effizienzdenken machen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!