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Mehr Konsum, weniger Panzer

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Schlamperei und Husch-Pfusch gelten als Erbkrankheiten der so- wjetischen Wirtschaft. Nur die Rüstungsbetriebe arbeiten effizient. Sie sollen auch jetzt die Produktion von Konsumgütern ankurbeln.

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Schlamperei und Husch-Pfusch gelten als Erbkrankheiten der so- wjetischen Wirtschaft. Nur die Rüstungsbetriebe arbeiten effizient. Sie sollen auch jetzt die Produktion von Konsumgütern ankurbeln.

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Ende Dezember fand in Moskau ein aufsehenerregender Floh- markt statt. Das Verteidigungsmi- nisterium „verscherbelte" Teile seines Inventars, sowohl Kleidung als auch Ausrüstung. Schutzbeklei- dung gegen aggressive Chemika- lien sowie 100 Lastwagen, die bis- her zum Transport von SS-20-Ra- keten benützt worden waren, gin- gen weg wie warme Semmeln. Die Rote Armee rüstet ab; die Soldaten sind froh, wenn ihnen türkische oder kurdische Händler- unter der Hand natürlich - das eine oder andere Stück abkaufen. Dieses Phänomen wird in den sowjetischen Medien fast euphorisch als Ableger der vielzitierten „Konversion" behan- delt. Zwar geht es bei der „Kon- wersija" in erster Linie um die Umstellung der Rüstungsproduk- tion auf zivile Güter, aber das The- ma ist derart populär, daß es für alles herhalten muß, was nach mehr Konsum und weniger Panzer riecht.

Das sowjetische Verteidigungs- ministerium veröffentlichte auch beeindruckende Zahlen: Noch in diesem Jahr soll die Rüstungspro- duktion um ein Fünftel gedrosselt, die Produktion von zivilen Gütern um 35 Prozent - im Warenwert von 40 Milliarden Rubel - angehoben werden. Bis 1995 will man 420 Rüstungsbetriebe ganz oder teil- weise auf die Zivilproduktion umstellen. Tatsache ist, daß bisher schon manche Rüstungsbetriebe bis zu 40 Prozent ihres Outputs dem zivilen Sektor gewidmet haben. Nachgerechnet soll dieser Sektor bis Ende des Jahres um zehn Pro- zent, bis 1995 um 20 Prozent ausge- weitet werden. Angesichts des Umfanges des sowjetischen Rü- stungssektors immer noch beacht- liche Zahlen!

Seit ungefähr zehn Jahren erzeu- gen die Rüstungsbetriebe auch verschiedene Konsumgüter, vom Kochtopf bis zum Herzschrittma- cher. Ungefähr ein Fünftel aller Konsumgüter stammt bereits aus solchen Firmen. So zum Beispiel 100 Prozent der Kühlschränke und Tonbandgeräte, 50 Prozent aller Mopeds, 70 Prozent aller Staub- sauger und Waschmaschinen.

Igor Belousow, Vorsitzender der Kommission für Militärindustrie, ist optimistisch: „Angesichts der Konversion der Rüstungsproduk- tion besteht die reale Möglichkeit, die Produktion dieser Waren bis zur Bedarfsdeckung zu erhöhen." Und das innerhalb der nächsten drei Jahre. Seiner Ansicht nach ist der Rüstungssektor alles andere als ein überflüssiger Schmarotzer. So hätte etwa die Entwicklung des Ra- keten-Trägersystems „Energija/ Buran" der Volkswirtschaft über 600 moderne Technologien und Stoffe zur Nutzung angeboten. Allerdings übernehmen die Betrie- be das angebotene Know-how kaum. Die Anpassung an die neuen Verfahren wird als zu zeit- und kostenintensiv empfunden.

Längst fällige Projekte sollen jetzt jedenfalls in Angriff genommen werden: Statt Kampf jets sollen die Flugzeugwerke in Uljanowsk Zi- vilflugzeuge des Typs Tu-204, die Taschkenter Flugzeugwerke jene des Typs 11-114 für die bereits flü- gellahme Aeroflot herstellen. Der Rüstungsbetrieb „Bolschewik" in Leningrad will mit der Produktion von Rollstühlen beginnen. Im sibi- rischen Amursk will der Betrieb Polymer in einem Joint-Venture mit einem südkoreanischen Part- ner Mikrowellenherde herstellen.

Nicht nur die Produktion, son- dern auch bereits fertiges Gerät wird konvertiert. Mit Lust sendet die sowjetische Agentur derzeit APN-Fotos um den Erdball. Sie zeigen, wie sich Geschütze in Anla- gen zum Eintreiben von Pfeilern, Raketenabschußrampen in schwe- re Kräne oder Panzer in Zugma- schinen verwandeln. Daß man aus kleinen Panzern auch Traktoren schmieden kann, ist dabei weniger originell. Einige sowjetische Trak- tortypen mit Kettenrädern gleichen ohnehin mehr Panzern als Acker- geräten.

Neben der Freisetzung von Pro- duktionskapazitäten erwarten die Planwirtschafter auch eine Anhe- bung des technischen Standards. Schlamperei und Husch-Pfusch, die Erbkrankheiten der Sowjetwirt- schaft, sind in den Rüstungsbetrie- ben weitgehend unbekannt. Die Mi- litärbetriebe waren bisher privile- gierte Enklaven. Trotzdem gibt es skeptische Stimmen. Der Wirt- schaftsexperte Sergej Blagowolin beispielsweise ist skeptisch über die Erfolgsaussichten der angestrebten Konversion: Niemand weiß, wievie- le Militärbetriebe es gibt. Was sie genau produzieren und wie viele Arbeitskräfte sie beschäftigen. Ja, man wisse nicht einmal, wo sie lie- gen! Nun wird diesen Betrieben aber die Produktion von Gütern aufgehalst, für die sie absolut nicht gerüstet sind. Das Chaos wird noch dadurch gesteigert, daß es separate Ministerien für Flugzeugbau, Ma- schinenbau, Schiffbau und so wei- ter gibt, die neben- und mitunter auch gegeneinander planen.

Der Ökonom Alexej Isiumow, Experte für Konversion, prophe- zeite kürzlich ebenfalls Düsteres: Bisher bekamen die Militärbetrie- be das beste Material zugeteilt, „ aber für die zivile Produktion wird die Zulieferung an Qualität verlie- ren und auch die Arbeitsdisziplin wird auf das Normalmaß sinken". Durch die radikale Abrüstungspo- litik Michail Gorbatschows wird in Rüstungsbetriebe weniger inve- stiert. Ohne finanzielle Absicherun- gen wird es aber zu Entlassungen kommen.

Professor Mark Kramer vom Havard Russian Re- search Center warnt, daß das Getue um die Konversion von der notwendigen Re-strukturie- rung der gesam- ten Wirtschaft ablenke. Außer- dem könnten „konvertierte" Fabriksanlagen sehr schnell wie- der in die militä- rische Produk- tion eingeglie- dert werden.

Der Erfolg der Konversion steht jedenfallls noch aus, der Skandal ist bereits da: Der Moskauer Betrieb ANT wollte der fran- zösischen Fi- nanzgruppe CDC abgerüste- te Panzer und ähnlichen „Ab- fall" verkaufen. Ein gutes Ge- schäft, denn Schätzungen zu- folge lassen So- wjetfabriken Unmengen von rohstoffhaltigen Abfällen verrot- ten. Im Gegenzug sollten die Fran- zosen Computer, medizinische Geräte und an- dere Raritäten liefern. Der Ge- neraldirektor des Rüstungsbetrie- bes „Vzljot" wollte jetzt von den Moskauern solche West- Computer erwerben, sollte dafür aber mit zwölf ausrangierten Pan- zern der Type T-7 2 bezahlen. Bevor die Tanks die Betriebsanlage ver- lassen konnten, bekam die konser- vative „Sowjetskaja Rossija" Wind von dem Deal und brach in Gezeter über den „Ausverkauf militärischer Geheimnisse" aus. KGB und Staats- anwalt untersuchen den Fall...

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