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Mehr Mut zum Wagnis

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Es ist richtig, daß ein behindertes Kind viele Dinge nicht erlernen kann, die ein nichtbehindertes mit Leichtigkeit und ganz selbstverständlich erlernt. Aber wer kann im vorhinein ganz sicher beurteilen, was ein behindertes Kind nicht lernen kann?

Anhand des Beispiels, das mein Sohn mir gegeben hat, will ich Eltern Mut machen, ihren Kindern die Chance zu geben, etwas zu versuchen.

Das erste „Wunder" war, daß mein geistig behinderter Sohn lesen gelernt hat, und zwar so gut, daß er Märchen- und Geschichtenbücher lesen kann. Er leidet seit seiner Geburt an Strabismus (ruckartige und unkontrollierte Bewegungen beider Augäpfel), und er schielte mit beiden Augen.

Wenn ich mit ihm, als er vier Jahre alt war, ein Bilderbuch anschauen wollte, machte er nur einen kurzen Blick auf das Bild und schaute sofort wieder weg. Es fiel ihm ungeheuer schwer, seine Augen unter Kontrolle zu halten und etwas längere Zeit zu fixieren. Später übten wir jeden Tag mit Otto- und Eva-Büchern. Er erkannte nach einiger Zeit ganze Wörter und einzelne Buchstaben. Die Buchstaben und Wörter waren sehr groß (ca. zehn Zentimeter).

Es fiel mir nicht im Traum ein, daß er auch einmal imstande sein werde, die kleingedruckten Anmerkungen in den Büchern, die für die Eltern gedacht waren, zu lesen. In der Schule erlernte er dann das Zusammenlauten der einzelnen Buchstaben, und heute liest er Druckschrift gut. Auch der Arzt meint, dies sei eine ungeheure Leistung des Kindes.

Das Wichtigste: Er hat seine eingeschränkten Möglichkeiten der Freizeitbetätigung um etwas ganz Wichtiges, nämlich das Lesen zum Vergnügen,' erweitert. Er liest jetzt gern und oft.

Eines Tages, mein Sohn war inzwischen 14 Jahre alt, befand sich in seiner Schultasche ein Zettel mit der Frage, ob er beim Eislaufen mitmachen darf. Einmal pro Woche wollen Lehrer und Schüler auf den Eislauf platz gehen. Meine erste Reaktion war: unmöglich! Nein! Seine Gleichgewichtsstörungen, sein unsicherer Gang und seine Knickfüße machen es ihm unmöglich, diesen Sport auszuüben. Das schafft er nie!

Schon wollte ich dieses endgültige „Nein" hinschreiben, als mir der Gedanke kam: warum soll er es nicht versuchen? Sollte es wirklich nicht gehen, werden mir die Lehrkräfte dies schon mitteilen.

Da mein Sohn zu Hause nicht sehr erzählfreudig ist, war ich beim nächsten Elternabend in der Schule mehr als überrascht, als mir seine Lehrerin erzählte, daß er mit großer Begeisterung bei der Sache ist. Er hält sich an der seitlichen Barriere an und geht unbeirrt mit den Eislaufschuhen seinen Weg. Später wagte er es auch, ganz frei zu gehen.

Die Begeisterung hat bis heute angehalten und auch sein ungeheurer Stolz, diese Leistung vollbringen zu können. Es macht ihm Spaß und ist auch eine Möglichkeit der körperlichen Betätigung.

So war ich aus diesen Erfahrungen heraus schon sehr viel mutiger, als heuer von der Lebenshilfe Oberösterreich ein Schikurs ausgeschrieben wurde. Ich meldete meinen Sohn für den Kurs „Langlaufen" an. Selten habe ich bei meinem Kind eine so offen zur Schau getragene Freude erlebt, als wir ihm sagten, daß er auf Schikurs fahren darf. Vielleicht bedeutete es ihm auch eine Genugtuung, daß auch er einmal Schi fahren darf und nicht nur immer seine nichtbehinderte Schwester.

Als der Brief mit der Anmeldungsbestätigung kam, war er so aufgeregt, daß Papa, Mama und seine Schwester ihm den Brief mindestens je zehnmal vorlesen mußten, und er selbst las ihn auch immer wieder.

Das Wetter war dann zum Glück traumhaft schön. Es gab genug Schnee. Langlaufschier samt Schuhen konnte man ausborgen, und so stand einer wunderschönen Woche nichts mehr im Wege. Als wir ihn am Ende des Schikurses von Vöcklabruck abholten, war er braungebrannt und fröhlich. Der Betreuer meinte, daß das Langlaufen ganz gut gegangen sei. Wir freuten uns alle mit ihm, denn so haben wir eine weitere Möglichkeit, den langen Winter mit gemeinsamer Freizeitaktivität zu überbrücken. Denn Langlaufen können wir „Alten" auch noch erlernen.

Hätten wir von vornherein aufgegeben und nein gesagt, hätte das erste Nein sicher auch das zweite Nein zur Folge gehabt und vielleicht einen negativen Kreislauf in Gang gesetzt. Wieviel Freude und Spaß wären meinem Sohn dadurch verlorengegangen.

Auszug aus Lebenshilfe 2/84

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