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„Mehr“ oder „besser

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Als Gott die Welt schuf, schuf er nur eine. Es waren noch einfache Zeiten. Heute geht es nicht ohne eine Erste und Zweite und eine vielbesprochene Dritte Welt. In letzter Zeit auch bereits eine Vierte Welt, die der ärmsten Annen. Viele Welten. Vor kurzer Zeit fand in New-York eine Sitzung der Vereinten Nationen über Entwicklung und internationale Wirtschaftskooperation statt, deren Zweck es war, den Delegierten der Länder der Dritten und Vierten Welt ein Forum zu bieten, ihre Forderungen gegenüber den entwickelten Ländern tu formulieren und zu präsentieren.

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Als Gott die Welt schuf, schuf er nur eine. Es waren noch einfache Zeiten. Heute geht es nicht ohne eine Erste und Zweite und eine vielbesprochene Dritte Welt. In letzter Zeit auch bereits eine Vierte Welt, die der ärmsten Annen. Viele Welten. Vor kurzer Zeit fand in New-York eine Sitzung der Vereinten Nationen über Entwicklung und internationale Wirtschaftskooperation statt, deren Zweck es war, den Delegierten der Länder der Dritten und Vierten Welt ein Forum zu bieten, ihre Forderungen gegenüber den entwickelten Ländern tu formulieren und zu präsentieren.

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Die Forderungen der euphemistisch „Entwicklungsländer“ genannten Staaten der Dritten Welt sind bekannt. Als man den Gründer und langjährigen Präsidenten der amerikanischen Gewerkschaftsorganisation A. F. L., Samuel Gompers, einmal fragte, was er denn eigentlich wolle, war seine Antwort kurz und ehrlich: „Mehr!“ In New York sprach man jedoch von der Notwendigkeit höherer Investitionen in den Entwicklungsländern und von deren Anspruch auf totale Souveränität über ihre Naturschätze und ihrem uneingeschränkten Recht, ausländische Unternehmen zu nationalisieren sowie allfällige Kompensationen nach einheimischem Recht festzusetzen. Man sprach von der Notwendigkeit, Rohmaterialienpreise zu stabilisieren. Dabei sollten die Industrieländer helfen. Die nunmehr erhöhten Rohmaterialspreise, die zweifellos einen inflationären Effekt auf die Wirtschaft der Industrieländer haben müßten, sollten danach mit dem In^ dex der Industrie-Exporte gekoppelt werden, damit die Entwicklungsländer nicht unter der von ihnen verursachten Inflation zu leiden hätten. Und während zusätzliche Fonds von den Reichen dieser Welt dringend für EntwicMungszwecke gebraucht würden, sollten die bereits existierenden Schulden der Drittweltländer teilweise oder ganz nachgesehen .werden.

Man sprach von einer Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung, und man meinte einfach: „Mehr!“

Worauf stützen die Regierungen der Länder der Dritten Welt ihre Ansprüche? Teilweise sind sie überzeugt (oder geben vor, es zu sein), daß die entwickelten Länder ihnen etwas schuldig sind. Diese Ansicht wird vielfach in den entwickelten Ländern des Westens geteilt; aber nicht in Moskau. Ein gewisses Schuldgefühl ließe sich noch allenfalls in London, Paris oder Brüssel verstehen; weniger jedoch in Stockholm, Ottawa oder Wien. Tasächlich ist aber auch das Argument der Wie dergutmachung kolonialer Ausbeutung etwas fadenscheinig. Viele von den ehemaligen Kolonien — besonders in Afrika — waren nur relativ kurze Zeit unter europäischer Fremdherrschaft; zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Vielfach beendeten die sogenannten Unterdrücker den Sklavenhandel, verhinderten Kriege, bauten Straßen und Bahnen und Kliniken und retteten Leben.

Natürlich haben die Kolonialmächte all dies nicht aus reiner Nächstenliebe getan. Aber die Städte stehen und die Straßen sind geblieben. Und nur nebenbei sei bemerkt, daß bei weitem nicht alle Kolonien dem Mutterland einen Profit einbrachten.

Aber wenn man einfach „mehr“ haben will, ist wohl ein Argument so gut wie das andere. Das um so mehr, als es ja noch andere Uberredungs-mittel gibt. Die ölländer haben den Weg gezeigt. Was die konnten, können Chile, Peru, Sambia und Zaire in bezug auf Kupfer. Mehr als zwei Drittel der Weltproduktion von Zinn kommt aus zwei Ländern. Und mit der Weltversorgung von Aluminium ist es ähnlich. Eine Zinnknappheit mag den einzelnen Bürger im Westen nicht so unmittelbar persönlich treffen wie der arabische Ölboykott vor zwei Jahren, aber als Drohung läßt sich vielleicht doch damit einiges erpressen.

1 Die Industrieländer des Westens haben nämlich anläßlich der Ölkrise des Jahres 1973 gezeigt, daß sie sich erpressen lassen, daß.sie zahlen. Und, weil sie einmal gezahlt haben, auch ein zweites und drittes Mal zahlen werden; daß sie nicht imstande sind, gemeinsame Sache zu machen; daß sie die Lektion der dreißiger Jahre entweder bereits vergessen oder nie gelernt haben.

Aus Enttäuschung und Frustrierung ist eine explosive Situation entstanden, die es nun zu entschärfen gilt.1 Da nützen keine neuerlichen Reden, kein Anleihetrostpflaster ad hoc da und dort. In demselben Maße, in dem die Länder der Dritten Welt sich zusammengetan haben, muß nun auch die Erste Welt zusammenstehen. Da die Vertreter der Dritten Welt emotionell und unlogisch sind, müssen die Staatsmänner der Industrieländer um so kühler und logischer agieren. Der Ruin der entwik-kelten Länder würde nicht den Interessen der Entwicklungsländer dienen. Und die Industrieländer müssen sich von ihrem post-kolonia-len Schuldkomplex befreien und Suizidgedanken von sich weisen. Da es einerseits technisch unmöglich ist, allen unterentwickelten Ländern gleichzeitig und wirksam zu helfen, selbst wenn dazu irgendeine Verpflichtung bestünde außer der, seines Bruders Hüter zu sein, und es anderseits unmoralisch und unweise wäre, sich von der hungernden Hälfte der Menschheit einfach abzuwenden, bleibt nur die Möglichkeit der gezielten, statt einer gestreuten Entwicklungshilfe offen.

Über die Modalitäten, wie zum Beispiel die Auswahl derjenigen Länder, denen zuerst geholfen werden soll, ließe sich diskutieren. Aber die Industriestaaten, von denen heute „mehr“ verlangt wird, müßten es klarmachen, daß sie sich stattdessen für „besser“ entschieden haben, und daß die Entscheidung bei ihnen liegt. Erpressungsversuche und Drohungen müssen kategorisch — und kollektiv — zurückgewiesen werden.

Die sechziger Jahre wurden von den Vereinten Nationen als Entwicklungsjahrzehnt proklamiert. Es endete enttäuschend. Wir gehen jetzt dem Ende des zweiten Entwicklungsjahrzehnts entgegen. Wie soll dieses enden?

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