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Mehr Raum für Private

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Westliche Ungarnbesucher kennen sie schon — die kleinen „Privatgeschäfte”, wo das Personal eilfertig wieselt und um den Kunden bemüht ist wie um einen König. Bisher waren diese Händler auf eine bestimmte Produktpalette beschränkt — etwa technische und elektrische Materialien, Radios, Musikinstrumente, Kleider und Schuhe.

Seit 1. Juli sind per Gesetz die Möglichkeiten für die privaten Detailhändler entscheidend ausgeweitet worden: Backwaren, Kaffee, Tee und Konfekt können nun ebenso verkauft werden wie Kinderkleidung, Filme, Fotos und optische Artikel. Auch gebrauchte Möbel und Kleider sind nun frei für den Privatmarkt.

Neu auch, daß Spielautomaten in den privaten Restaurants und Cafes, die es schon seit 1980 gibt, aufgestellt werden können, daß für geschäftliche Transaktionen der Privaten nun auch „Agenten” die Abwicklung übernehmen können.

Auch das bei uns schon recht üblich gewordene „Leasing”-Verfahren ist nun bei gewissen land-. wirtschaftlichen Maschinen, Werkzeugen, bei Pferden und Kutschen möglich geworden. Ausdrücklich für den staatlichen Handel vorbehalten — und hier spielen sicherlich politische Gründe eine Rolle — ist der Verkauf von Autos, Schreib- und Druckmaschinen sowie pharmazeutischen Produkten.

In den privaten Handelsgeschäften können seit Anfang Juli — je nach Art der Produkte — zwei bis sechs nicht der Familie ange-hörigeJ'ersonen beschäftigt werden. Insgesamt ist aber vom Staat die Zahl der Mitarbeiter mit 12 begrenzt worden.

Nach Vorstellung der ungarischen Wirtschaftslenker wird durch diese Bestimmungen der Handel, der bisher zu 99 Prozent staatlich abgewickelt wurde, nun zu etwa fünf Prozent in private Hände gelangen. Damit bleibt der

„sozialistische Sektor” dominierend.

Eine weitere wichtige Bestimmung, um den Privatsektor zu stimulieren, ist die Steuergesetzgebung: Die starke Progression setzt erst bei einem Jahreseinkommen von etwa 200.000 Forint ein.

Steuerbegünstigungen gibt es aber auch seit Juli für sogenannte landwirtschaftliche Kleinproduzenten: Wer ein Jahreseinkommen von nur 150.000 Forint erzielt, bleibt vom Fiskus überhaupt ungeschoren.

Viehzüchter zahlen nur für zehn bis 15 Prozent der Einnahmen Steuer. Rinderzucht und Much-

Von PETER BRUDER

Produktion bleiben unbesteuert, wer Brachland kultiviert, den läßt der Finanzminister für fünf Jahre in Ruhe. Was dem Fiskus dadurch entgehen mag, kommt — volkswirtschaftlich gesehen — wieder herein:

Auch dank der Privatbauern ist die Binnenversorgung mit Nah-, rungsmitteln hervorragend, und der Export an Eßbarem, der die wichtigen West-Devisen bringt, macht immerhin wertmäßig fast 40 Prozent der gesamten ungarischen Ausfuhren aus (ein Drittel der Agrar-Erzeugung kommt aus privater Hofwirtschaft).

Und weil die „Privat-Initiative” (und nicht unbedingt das Privateigentum) im kommunistischen Ungarn so gefördert wird wie kaum anderswo in Osteuropa, entsteht tatsächlich so etwas wie ein „sozialistischer Wettbewerb”.

Im Konkurrenzwind passen sich auch die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) sozusagen stromlinienförmig an Praktiken und Methoden der Privaten an: Eine LPG entdeckte eine Marktlücke, nämlich die Aufzucht von Tauben, die vor allem von Frankreich, Italien, Jordanien, Kuwait und Saudi-Arabien geordert werden.

Neben den rein praktisch-technischen Förderungen der Privaten (Handwerker und Kleingewerbetreibende haben heute schon fast 120.000 Betriebe und stellen 3,5 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, der private Einzelhandel hat rund 15.000 eigene Geschäfte, Hausrenovierung und Reparaturen werden zu 80,3 Prozent, Dienstleistungen zu 50,2 Prozent von Privaten gemacht) gibt es aber auch ein allgemeines politisches Klima für wirtschaftliche Reform-Ideen.

Nur zwei Beispiele dafür:.

• Die straff zentralistische Produktionsplanung „beschränkt sich heute nur noch auf lebenswichtige Energieträger und Rohstoffe” (so Nationalbankdirektor Tamas Bacskai)

• Laut bisher geltenden Gesetzen werden die Direktoren von Unternehmen von den Fachministerien ernannt. Doch nun werr den mehr als bisher, laut Erlaß, die Fachkenntnis der Kandidaten berücksichtigt und folgende Eigenschaften getestet werden müssen: Initiative, Risikofreude, „Marktgefühl”, Innovationsbereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit.

„Die bisherige heilige Regel, daß der Unternehmensleiter vor allem politische Zuverlässigkeit besitzen muß, und erst dann Fachmann und Experte sein muß, wird jetzt korrigiert werden”, heißt es in einem Korresponden-tenbericht der jugoslawischen Agentur TANJUG aus Budapest.

Ungeachtet all dieser konsequent durchgeführten Neuerungen und Reformideen ist klar, daß in Ungarn pragmatische und keine ideologischen Änderungen der Wirtschaftsordnung vor sich gehen. Der „sozialistische Sektor” bleibt dominierend, die Symbiose zwischen gesellschaftlichem und privatem Sektor ist jederzeit aufkündbar.

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