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Mehr Schule statt Familie?

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In den letzten zwei Wochen war in den Zeitungen auffallend viel über das Kind zu lesen. Die neue Studie „Kind sein in Österreich” weiß, daß zwei Drittel der Kinder wohl glücklich sind, aber daß nur ein Fünftel der Väter an Wochentagen „oft” Zeit für ihre Kinder haben. Professor C. Geißler aus Hannover meinte in Salzburg: „Nur die Familien schaffen in unserer Gesellschaft Humanvermögen.” Aus dem Familienministerium kam der Warnruf, daß „Fremdunterbringung” von Kindern reformbedürftig sei. Anstelle von Heimen sollten Pflegefamilien gesucht werden. Von Mürzsteg appellierte ein internationaler „Kindergipfel” an die UNO-Menschenrechtskonferenz.

Knapp davor beschloß das Parlament „ganztägige Schulformen”. Damit endete nach 18 Jahren ein Schulversuch. Im politischen Streit standen Ganztagsschule (SPÖ-Modell, mit Unterricht auch am Nachmittag) und Tagesheimschule (ÖVP-Modell, freies Angebot von Nachmittagsbetreuung). Eltern und Lehrer können sich nun für eine der Varianten entscheiden.

Koalitionspolitiker erfreut dieser Kompromiß, Mütter die Möglichkeit, ihre Kinder ganztägig betreut zu haben. Aber wer hat die Kinder gefragt? Ohne die Probleme der Mütter geringzu-achten, seien im Namen der Kinder einige Anmerkungen erlaubt.

Wie schaut ihr Schüleralltag aus? Möglicherweise dauert er von acht bis 17 Uhr. (Manche werden schon um sieben Uhr in einem Hort abgegeben und erst um 18 Uhr abgeholt). Und der Abend in der Familie? Gestreßte Eltern (Mütter), Essen, womöglich vor dem Fernsehschirm. Was sonst? Der große Vorwurf in der Kinderstudie war: „Eltern, nehmt euch Zeit für uns!”

Die Freizeit wird, selbst in der Tagesheimschule, verplant. Wo lernen dann Kinder, sie selbst frei zu gestalten? Begegnungsmöglichkeit mit Freunden wird reduziert, Anschluß an freigewählte Gruppen ist kaum mehr möglich. Wächst eine Generation heran, die später „Freizeitanimateure” brauchen wird?

Das Gespräch zwischen den Generationen ist heute oft schwer, das Vertrauen der Kinder zu ihren Eltern häufig gestört. Ein Wunder, wenn Kinder immer seltener „Familie” erleben? Aber bleibt den Eltern nicht ohnehin die Wahl? Grundsätzlich ja. Was aber, wenn sich in den Schulen der Umgebung jeweils eine knappe Mehrheit für das andere Modell entscheidet?

Mit solchen Fragen stelle ich mich nicht gegen den Parlamentsbeschluß. Ich erhebe aber den Vorwurf, daß schulpolitische Entscheidungen oft von anderen Interessen, als denen der Kinder beeinflußt sind. Und daß man viel zum Wohl der Kinder und dem Wert der Familie redet, aber gleichzeitig die Weichen in der Gesellschaftspolitik anders stellt.

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