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Mehr Selbstgefühl, Senioren!

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Alle vier Jahre wieder beginnt in den Parteizentralen das große Rechnen und Zittern: Die Erstwähler — etwa 400.000 an der Zahl — gehen zur Urne. Kein Parteistratege weiß von vornherein, wem dieser fette Brocken Wählerstimmen wirklich zufallen wird. Man weiß natürlich, daß Erstwähler noch sehr stark vom Elternhaus beeinflußt sind. Zum kritischen Wechselwähler mausert er sich, wenn er zum zweiten, dritten und vierten Mal vor die Entscheidung gestellt wird, welcher Partei er sein Vertrauen schenken soll. Man weiß auch, daß der Wähler mit zunehmender Erfahrung zugleich auch skeptischer und mißtrauischer gegenüber Parteien, Führern und Parolen wird. Anderseits ist es natürlich auch bekannt, daß mit zunehmendem Alter sich politische Ansichten verfestigen und die Parteigebundenheit und -treue wächst.

Die Parteien setzen im Wahlkampf mit ihren Aktivitäten vor allem dort an, wo ein neues Wählerpotential auftritt, das leichter beeinflußbar, begeisterungsfähig und noch nicht allzusehr gebunden ist. Die Jungwähler sind aus dieser Perspektive eine geradezu klassische Zielgruppe der wahlwerbenden Parteien. Der Wettlauf um die Gunst dieser Zielgruppe wird meist von bestimmten Parolen begleitet, wie etwa von der Forderung nach immer weiterer Herabsetzung des Wahlalters und der Volljährigkeit, oder der Gewährung von Wählzuckerln, wie Heiratsbeihilfen, Wöhnstarthilfen für junge Ehepaare, Wehrdienstzeitverkürzung usw.

Kann man deshalb schon von einem „Jugendkult“ sprechen? Ist es nicht ein verkürzter Ansatz, den Parteien einen solchen Kult vorzuwerfen, ohne die Frage nach den tieferen gesellschaftlichen Ursachen dieses Phänomens zu stellen?

Im Zweiten Weltkrieg wurde praktisch eine ganze Generation — die der heute 45- bis 55jährigen — stark dezimiert oder politisch gebrochen.

Die damals jung waren, haben heute — so sie überlebten — meist der Politik den Rücken gekehrt. Dadurch fehlt heute in der politischen Szenerie ein wichtiges Bindeglied zwischen der sogenannten Gründergeneration der Zweiten Republik und den nachdrängenden 30- bis 45jährigen. Der Übergang zwischen den Generationen vollzieht sich nicht reibungslos fließend, sondern bruchartig und abrupt. Hinter den alt und vertraut gewordenen Gesichtern der gesellschaftlichen Führungselite tauchen plötzlich wenig bekannte Köpfe auf, die durch die immer zahlreicher werdenden Lücken plötzlich im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Es fehlt ein Bindeglied und zugleich auch eine gewisse politische Kontinuität

Die österreichische Volkspartei hat diesen Generationensprung bereits vollzogen; der Regierungspartei steht er erst bevor. Gerade in der SPÖ wird diese Problematik besonders deutlich: Mehr als die halbe Regierungsmannschaft oszilliert rund

um die Pensionsgrenze und kann sich nur mühsam durch immer neue Ausnahmeregelungen von der seinerzeit beschlossenen Altersklausel (die allerdings nur für Parteifunktionen gilt) am Ruder halten. Aber was kommt hinter dieser Generation? Eine kleine Schar von mehr oder minder attraktiven Kronprinzen — mehr oder minder krampfhaft zu solcher Würde ernannt.

Dieser abrupte Generationensprung hat aber in vielen anderen Bereichen stattgefunden: in der Wirtschaft, in der Kunst, in der Wissenschaft. In den Universitäten sitzt eine stattliche Zahl von 30- bis 40 jährigen Professoren und eine Fülle von hochqualifiziertem wissenschaftlichem Personal. Und gerade in den Hochschulen wird auch die

Kehrseite dieses raschen Generationensprunges schon heute sichtbar: Diese Wissenschaftergeneration wird rund 20 bis 30 Jahre in etwa den gleichen Bereichen wie heute tätig sein. Da die Expansion des höheren Bildungssektors wahrscheinlich nicht mehr im gleichen Umfang wie in den vergangenen Jahren aufrechterhalten werden kann, wird sich die Lage für die nachfolgende Generation um so schwieriger gestalten. In einzelnen wissenschaftlichen Bereichen ist es

Studienabsolventen heute nicht mehr oder nur sehr schwer möglich, im selbstgewählten Fachbereich auch einen wissenschaftlichen Arbeitsplatz zu finden. Ähnliches wird — wenn auch mit Verzögerung — für den politischen Sektor gelten; in der Wissenschaft ist der Generationensprung zum Teil erst im Gange.

Es zeigt sich aber deutlich, daß solche Verschiebungen phasenweise vor sich gehen. Man kann aber erwarten, daß gerade die durch den „Jugendkult“ emporgekommene Generation eine Fortdauer dieser Tendenz aus eigenem zumindest nicht fördern dürfte.

Eine weitere Ursache dieses gesellschaftlichen Jugendbooms ist die ökonomische Bedeutung dieser Gruppe. Die Wirtschaft hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren die Jugend ganz bewußt als potentielle Marktchance erkannt und angesprochen. Das Konsumationspotential dieser Gruppe ist enorm. Ganze Wirtschaftszweige leben von diesem

speziellen Markt. Die Beeinflußbar-keit durch Werbung und mediale Botschaften ist relativ groß. Daraus resultiert auch eine optische Dominanz in den Werbeträgern.

Nun ist eine Parallele zwischen Wirtschaftswerbung und Marktstrategien der Wirtschaft einerseits und politischem Wahlkampf und Zielgruppenansprache anderseits eine höchst problematische Sache. Aber es ist wohl — leider — nicht zu leugnen, daß Österreich auch in dieser Hinsicht keine Insel der Seligen ist. Annäherungstendenzen zwischen politischer und kommerzieller Werbung sind unverkennbar. Aufmerksame Beobachter von Wahlkämpfen werden das längst bemerkt haben.

Das Bild der Wahlkämpfe wird immer stärker von Jugendkomitees, jungen Wahlhelfern, Hostessen, Studenten usw. bestimmt. Plakatsujets stellen immer stärker Jugendliche heraus. Damit wird ein bestimmter Eindruck suggeriert: die Partei X sei attraktiver, jünger, dynamischer. Diese Wechselbeziehung Wirtschaftswerbung und politische Strategie exi-

stiert und sollte nicht leichthin abgetan werden.

Zuletzt darf auch die Bedeutung des „Selbst-Bewußtseins“ der Generationen nicht unterschätzt werden. In den sechziger Jahren wuchs eine Generation heran, die ein ganz spezifisches Gruppenbewußtsein entwickelte: ein spezifisches Lebensgefühl, Symbole, Kleidung, Haartracht. Diese Generation brachte ein eigenes politisches Bewußtsein mit, das vor allem aus der Kritik der bestehenden Verhältnisse entstand. Diese Generation brachte ihre Forderungen laut in die Öffentlichkeit; sie erfand eine eigene und wirksame Form des politischen Protestes und formulierte neue Zielvorstellungen.

Und sie hatte Erfolg. Nicht allein aus eigener Kraft — verschiedene Umstände begünstigten sie (siehe oben). Dieser Generation wurde aber auch Platz gemacht. Viele, die damals „den Marsch durch die Institutionen“ angetreten haben, sind heute vorne. Manche Ziele (Bildungsreform, Universitätserneuerung, Liberalisierung im Rechtsbereich) wurden erreicht — wenn auch nicht immer in der ursprünglich gewünschten Reinheit.

Es zeigte sich hier einfach, wie sensibel ein politisches System auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert und wieviel eine kleine, aber selbstbewußte Gruppe im Rahmen unseres Gesellschaftssystems erreichen kann.

Bei früheren Wahlen schlug das Sympathiependel dieser Gruppe überwiegend zugunsten der Sozialisten aus; am 5. Oktober 1975 wurde jedoch ein anderer Trend sichtbar, der übrigens auch in der Bundesrepublik zu beobachten ist. Hochschulen und Gymnasien, noch vor wenigen Jahren stark sozialistisch dominiert, zeigen heute eine geradezu stabile Balance der politischen Mitte. Darin liegt eine große Chance, wenn es gelingt, sie inhaltlich zu nutzen. Auch die vorangegangene Generation hatte mit der Durchsetzung politischer Ziele Erfolg und nicht mit der Forderung nach Pflichtmandaten für Jugendfunktionäre.

Die Frage des Jugendkultes in den Parteien ist aber zugleich auch das Problem des mangelnden Selbstbewußtseins anderer gesellschaftlicher Gruppen. Das Selbstbild älterer Jahrgänge läßt die Betroffenen gern sich als der jüngeren Generation angehörig erscheinen. Sie wollen selbst wie die Jüngeren sein und lei-

sten damit unbewußt einen Beitrag zu diesem gesellschaftlichen „Kult“. Wenn es anderen gesellschaftlichen Gruppen gelingen würde, ein eigenständiges Selbstbewußtsein aufzubauen — das heißt: bewußt einen eigenen Lebensstil, spezifische Bedürfnisse aber auch politische Ziele zu entwickeln und auch den Versuch zu machen, dies alles durchzusetzen —, dann wird das gesellschaftliche System darauf reagieren. Die Parteien werden sich dieser neuen Gruppe annehmen und sie zu gewinnen trachten. Ihre Wünsche und Vorstellungen werden einen erhöhten Prioritätsrang erhalten. Ein solches neues Selbstgefühl soziologischer Gruppen zeigt sich etwa bei Angestellten und Facharbeitern. Auch im Bereich der älteren Menschen scheint sich eine solche Trendumkehr abzuspielen. Die Medien bringen spezifische Angebote, die Wirtschaft sieht einen neuen, noch nicht voll genutzten Markt; die Parteien richten ihre konzeptive Arbeit stark auf die Senioren aus.

Diese Entwicklung ist unbedingt positiv zu bewerten. Denn je mehr gesellschaftliche Gruppen zu einem solchen neuen Selbstgefühl kommen und ihre aus Selbsterfahrung gewonnenen Interessen aussprechen und durchsetzen wollen und so zu einer politischen Mündigkeit kommen, desto eher werden vorübergehende Randerscheinungen, wie der im Titel zitierte, ohnedies abklingende „Jugendkult“ der Vergangenheit angehören.

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