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„Mehr wissen als sagen“

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Der 80. Geburtstag Carl Jacob Burckhardts war begründeter und Würdiger Anlaß für die vom Scherz-Verlag herausgebrachte schöne Ausgabe der gesammelten Werke in sechs Bänden, die höchsten buchästhetischen Ansprüchen genügt. Der Autor hat an Auswahl und Zusammenstellung entscheidend mitgewirkt' und sein Placet gegeben. Gesammelte Werke sind keine „Sämtlichen Werke“, und das bedauert man im vorliegenden Falle am eindringlichsten hinsichtlich der Riehelieu-Biographie. Von ihr konnte nur der erste Band, „Der Aufstieg zur Macht“, aufgenommen werden. Der Leser empfindet das schmerzlich, etwa so, als bekäme ein Konzertbesucher nur den ersten Satz der Eroica zu hören; auch er schon großartig, aber welche Wandlungen und Steigerungen noch bis hin zum Schluß!

- Der zweite Band der Ausgabe trägt den Titel „Betrachtungen zur Geschichte und Literatur“; er enthält das Wesentliche, was der Historiker und der Literaturhistoriker Burckhardt uns geschenkt hat, darunter die tiefen „Gedanken über Karl V.“, die lebensvolle Studie über Maria Theresia, die beiden Vorträge „Schillers Mut“ (1955) und „Grillpar-zer und das Maß“ (1941), die den Verfasser selber als den Mann des ethisch-intellektuellen Mutes und des abendländisch-humanen Maßes ausweisen. Band drei: „Meine Dan-ziger Mission 1937 bis 1939“, 1959 erschienen, ein historisches Zeugnis, durch den marmorn-nüchternen Stil von taciteischer Wucht, als Quelle zur Zeitgeschichte von beträchtlichem Wert. In Band vier kommt der Schriftsteller, der Journalist zu Wort, auch der Mann, der hier eine Gedenkrede, dort eine Laudatio zu halten hat, hier ein Wort der Freundschaft, dort ein „Hommage“ schreibt, der eine Erinnerung festhält, ein Ge-, sprach aufzeichnet. Da geht es bunt her, Gelegenheitsarbeiten, Splitter, Miszellen. Ein Vorbeizug von Geist, Originalität, eingefleischter Kultur;-tief verschieden sie alle: Hofmanns-thal, Claudel, Dinu Lipatti (der Pianist), Theodor Heuss, de Lattre de Tassigny (der französische General), Ortega y Gasset, Annette Kolb — ein Geisterreigen heute schon weithin, darin mit dem, der sie porträtierte eins, daß sie die Welt mit Röntgen-augen sahen und sie deshalb nicht zu hassen vermochten.

Größe und Grenze

Und der Dichter Burckhardt, Band fünf: nicht überströmend reich, aber Voll von eigenartigem Reiz. Zarteste Zwischentöne, Zwischenfarben, Ubergänge wie in der Novelle „Die Höhle“ (1912); Kühle und Wärme, plötzlich Abgrund, Zwielicht wie in den Erzählungen „Der Fährmann“ (Fragment, 1914) oder „Die Episode Randa“, dem Romanfragment „Malters“ (1912 bis 1921). Im gleichen

Band die „Helvetica“: Graben, Schatzsuchen, Gärtnern im eigenen Erdreich. Der Weltbürger und Europäer ist beides als Baseler. Größe und Grenze. Das ist und das tut gut so. Schließlich der sechste Band: die Briefe, vielleicht der Höhepunkt der ganzen Edition schlechthin. Obwohl gerade hier der zur Verfügung stehende Raum innerhalb des an sich sehr gut ausgewogenen Hexagons zu Verzicht allerorten zwang: nicht nur, daß die Gegenbriefe der Adressaten fehlen, auch manche Partner wurden wohl ganz ausgespart. Die Kommentierung der Briefe ist im allgemeinen ausreichend; das gilt vor allem für die an Max Rychner, nicht für die an Hofmannsthal, hier werden besonders jüngere Leser oft kaum folgen können.

Auf den sechs Umschlägen sechsmal ein Burckhardt-Bild, hervorragende Aufnahmen, die klug ausgewählt und verteilt sind, so daß sie zusammen die photographische Abbreviatur von Persönlichkeit und Leben ausmachen. Bild eins: ernste Züge, geprägt vom Wissen des Historikers, der Geschichte nicht als Faktenwust, sondern als nach transzendentem, freilich verhülltem, nur in Chiffren da und dort durchleuchtendem Plan erkannt hat. Mit diesem Bild korrespondiert das sechste: der Chronist seiner selbst und der Zeit, der am Schreibtisch vor Büchern sitzt und schreibt, ruhend in sich, ein Goethe-Deutscher durch und durch. Dazwisohen die Stationen, die Varianten, wohl auch einmal die Attitüden: so Bild zwei, ganz der Baseler, eine Spur behäbig, wohlwollend, mit Sinn für Komik; der Völkerbundskommissar, Bild drei, sechs-undvierzigjährig, amtlich-sachlich. Das Amt verbirgt den Mann; Bild vier zeigt den gern mit Händen redenden, selbstbewußten Heuss, dem Burckhardt zuhört mit einer Miene, in der sich Offizielles mit geistigmenschlichem Konsensus mischt, ein nobles Doppel, das sichtbar macht, wohin es mit uns gekommen ist; nobel auch Bild fünf, der elegante, weißhaarige Herr am Ufer der Seine, bei einem „bouquiniste“, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand haltend, in der anderen den „Homburg“, erstklassig sitzender Anzug mit proper-weißem Ziertüchlein, Di* stanz, Distinktion und die erforderliche Prise Positur. Ist es Zufall, daß nur dieses Bild den Betrachter anblickt?

Der in dieser Ausgabe vorgelegte erste Teil der Richelieu-Biographie erschien 1935 bei Callwey in München, wo 1965 und 1966 dann der zweite und der dritte Band, schließlich noch ein wissenschaftlicher Adnex folgten. Dreißig Jahre liegen zwischen der Grundsteinlegung des imposanten Gebäudes und der Fortführung und Vollendung. Dreißig Jahre, in die der zweite Weltkrieg mit mehr als dreißig Millionen Toten, das Scheitern des deutschen

Hegemoniestrebens, die Episode der faschistischen Großdiktaturen, das Ausscheiden Europas aus dem weltbestimmenden Kräftespiel, der Aufstieg Chinas, die Entstehung des neuen Koordinatennetzes unserer Existenz aus Fernsehen plus Kernspaltung fielen; dreißig Jahre, in denen Burckhardt seine Rolle auf der geschichtlich-politischen Bühne spielte als Hoher Kommissar in Dan-zig 1937 bis 1939, als Präsident des Internationalen Roten Kreuzes 1944 bis 1948, als schweizerischer Gesandter jh Paris 1945 bis 1949.

So erklärt es sich, daß aus dem „Richelieu“, der im ersten Teil mit Phantasie, künstlerischem Schwung, in Literatursprache einsetzte — eine den meisten heutigen Historikern grausliche Mischung in der Art von Ricarda Huchs „Großem Krieg“ oder Golo Manns „Wallenstein“ —„ daß daraus also exakte, minuziös ge-handhab'te Wissenschaft wurde, mit „Apparat“, gewissenhafter Gelehrsamkeit und deren Nachweis; ohne Glanz, doch mit Genauigkeit. Der „alte“ Richelieu von 1935 packte den Leser als Mensch, ein Künstler hatte Geschichte gestaltet; der „neue“ Richelieu interessierte die Adepten Klios. Doch aus der Muse war eine Professorin für Geschichte geworden, allerdings eine ersten Ranges.

Es ist selten, daß Geschichtsprofessoren Gelegenheit haben, Geschichte zu machen; wahrscheinlich besser für sie — und für uns. Selbst wo sie sich zur Politik ihrer Zeit, quasi professionell, äußern, ist's oft wenig glücklich, das gilt vom alten Momm-Sen bis hin zu unseren Ostverträge-Akklamateuren, weil eben die Verwechslung der Qualitäten von Geschichteschreiben und Politikmachen zugrundeliegt.

Mit Burckhardts Danziger Mission Ist es eine eigene Sache: zunächst einmal liest sich der Bericht dank der luciden Sprache und dank des Sujets — das unmittelbar präkatastrophale Spiel der Rädchen und Hebel im „Stellwerk der Geschichte“ wird Sichtbar — wie ein Reißer. Das Gespräch mit Hitler bleibt dem Leser unvergeßlich. Das Buch gibt zum Teil nachprüfbare Quellen wieder, zum Teil aber werden auch vernichtete Tagebücher in der Erinnerung rekonstruiert. Obwohl die Schilderung ohne Zweifel selbst bedeutsamen Quellenwert besitzt, so fließt doch dieser Wert aus zwei unterschiedlichen Ursprüngen: nämlich aus Akten und aus subjektivem Gedächtnis. Die Klammer für beides ist der Mensch Burckhardt. Solche Quellen sind wissenschaftlich hochinteressant und notwendig und vielleicht sogar in der Uberzahl; doch bergen sie auch Abgründe. Der schweizerische Völkerbundkommissar machte als Diplomat, Mensch und Mann eine vortreffliche Figur. Er bemühte sich, so steht es im Großen Brockhaus zu lesen, „den Ausbruch des Krieges zu verhindern“. Mit einem Wissen, das tiefer als seine Hoffnung war, wußte er, daß er das Unmögliche versuchte. Eine kleine Botenrolle im gewaltigen Schicksalsdrama von antiken Ausmaßen.

In einigen kleineren Stücken, vor allem Porträts und Begegnungen, erreicht Burckhardt höchste Gipfel. Es können durchaus auch Begegnungen mit Gegenständen sein, so etwa mit einem Denkmal des Camille Des-moulins. „Bei Betrachtung von Des-moulins' Denkmal“ gehört zu den gescheitesten Essays, die über die Französische Revolution geschrieben wurden. Auf dreißig Seiten erfährt der Leser mehr als aus dickleibigen Wälzern, dazu noch eingebettet in die ganz eigene Aura des Paris von 1929 und des Zusammentreffens mit dem dort lebenden Dichter Ludwig Derleth, einem Freunde Georges.

Der große Baseler beherrscht meisterhaft die Kunst, Wirklichkeit in Klima, in Stimmungen so einzutauchen, daß Leben daraus entsteht. Darin ist er dem sonst so andersgearteten Reinhold Schneider ähnlich: er schreibt nicht „über Geschichte“, sondern er tritt in den Ge-sohichtsraum und im die Geschichtszeit ein, ihnen sich ingeniös anverwandelnd. Indem er ihre Ziele, ihre Irrtümer, ihre Erfüllungen und Leiden erfährt, vermag er sie seiner Welt, seiner Gegenwart als fortwirkende Vegangenheit nahe und zum Bewußtsein zu bringen. Gewiß ist das nicht nur Geschichtswissenschaft, sondern auch Geschichtskunst, aber eben diese Verbindung wird erst dem Anspruch, Geschichte als Menschenschicksal zu schreiben, gerecht. Wer über das französische 17. Jahrhundert etwa arbeitet, wird sich nicht bloß auf Burckhardts „Richelieu“, auf die Essays „Sullys Plan einer Europaordnung“ und „Kalter Krieg im 17. Jahrhundert“ stützen können, doch werden ihm wesentliche Einsichten mangeln, falls er sie beiseite läßt.

Ein Jahrhundertbuch

Den Briefband — gemessen an Burckhardts Korrespondenz, eine sicherlich schmale Auswahl — kann man trotzdem ein Jahrhundertbuch nennen. Er enthält Briefe an Hofmannsthal, Max Rychner, Theodor Heuss, Ernst Howald, Karl Jaspers. Die an die beiden Erstgenannten, und ganz besonders wiederum die an den Rodauner Dichter, gehören zum Wundervollsten, Hellsichtigsten, was in unserem Jahrhundert an Briefen geschrieben wurde. Erstaunlich ist immer wieder die Gabe des Durchschauens, die auf Erkenntnis der geschichtlichen Tiefendimensionen beruhende Gabe der Prophetie. Burckhardt, damals noch jung, keine vierzig, als Hofmannsthal starb, hat mit dem Freund über alles gesprochen und, Gott sei Dank, fast alles geschrieben: Politik, Geschichte, Kunst,

Literatur, der Mensch. Immer wieder der Mensch. Er ist das wahre „Interessante“. Von ihm geht alles aus, ihn verstehen, heißt alles verstehen.

Der Europäer

Der bald Einundachtzigjährige war ein Genie der Freundschaft. Anders als George: nicht Herrschaft und Unterwerfung bestimmen das Band, sondern Scheu vor dem im andern verborgenen Schöpfungsgeheimnis, Liebe und Distanz Gleichgestellter. Um den innersten Kern von Zartheit und Hingabebereitschaft liegt die Hülle: da sehen wir den Routinier der Gesellschaft, den Mann der Con-naissancen und Konnektionen, den Diplomaten und Grandseigneur, der alles kennt, mit allem gespeist, tea-time gehalten, geplaudert, konferiert und korrespondiert hat, was in Europa zwischen 1918 und heute Rang und Namen hatte; der drei Muttersprachen hat, neben dem Deutschen das Französische und das Italienische. Dieser Burckhardt, der an der Welt und ihren Händeln und Launen und Greueln teilnimmt, helfend, mitleidend, tut es doch immer als Schweizer von baseischem Zuschnitt, das heißt, von einer letzten kleinen, heilen Insel aus: Reservatio Helvetica. Man könnte neidisch werden; denn da gibt es noch Spuren einer herrlichen, unverwüstlichen Naivität. Man war eben an den zwei Weltkriegen innerhalb von fünfundzwanzig Jahren doch nicht aktiv beteiligt. Banner und Hände blieben sauber. Es prägt einen Menschen, wenn er nie materielle Not gekannt hat. Das spürt man bisweilen bei Goethe wie bei Thomas Mann wie bei Burckhardt. Auf der Höhe einer Gesellschaft geboren und auf ihr verbleibend: höchst sublimer Hochmut wahrt den umfriedeten Bezirk.

Carl Jacob Burckhardt ist einer der letzten großen alten Europäer, die die umfassende humanistische Bildung elitär-human verkörpern. In ihm gibt es sie noch auf diesem Kontinent als Leben. Nach seinem Tode werden wir, zumal die Jungen, binnen kurzem überhaupt nicht mehr wissen, was ein „Aristokrat von Natur“ ist. Die Rezeptionsorgane dafür verkümmern. Leidenschaften, hohe und niedrige, wird es immer geben, und Zerrissenheit hat die seelische Landschaft dieses Jahrhunderts in Europa geprägt — doch dies alles gebändigt, unter Verschluß gehalten in Würde und Weisheit, das kennzeichnet Burckhardt im letzten. Gewiß ist er er selbst, doch steht er in einer Ahnenreihe, die von Seneca über Marc Aurel, Friedrich den Großen zu Goethe und bis hin zu Ernst Jünger führt. Zu Jünger, dessen Name nicht ein einziges Mal auftaucht, und mit dem der Baseler doch ein Arcanum teilt; die allerinnerste Reserviertheit, die daraus rührt, mehr zu wissen als zu sagen.

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