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Mehrsprachiges Lernen statt Assimilierung

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Seit Jahrzehnten haben Österreichs Volksgruppen mit der drohenden Assimilierung zu kämpfen. Ein mehrsprachiges Gymnasium in Wien soll mithelfen, Sprache und Kultur der österreichischen Minderheiten auch weiterhin zu erhalten.

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Seit Jahrzehnten haben Österreichs Volksgruppen mit der drohenden Assimilierung zu kämpfen. Ein mehrsprachiges Gymnasium in Wien soll mithelfen, Sprache und Kultur der österreichischen Minderheiten auch weiterhin zu erhalten.

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Geht es nach den Plänen der Wiener Volksgruppenvertreter, dann werden im Herbst 1995 die ersten zehnjährigen Mädchen und Burschen ein Wiener Volksgruppengymnasium besuchen können. „Internationales Volksgruppen-Gymnasium Wien” soll es heißen und in fünf ersten Klassen würde neben Deutsch in Kroatisch, Slowakisch, Tschechisch, Türkisch und Ungarisch unterrichtet werden.

Die Idee, ein mehrsprachiges Gymnasium in Wien zu installieren, hatte der ehemalige grüne Nationalsratsab-geordnete und Obmann des Österreichischen Volksgruppenzentrums, Ka-rel Smolle. Er hat sich der Wünsche der Volksgruppen Vertreter nach einer Schule für Volksgruppenangehörige angenommen, und eine Arbeitsgruppe im Volksgruppenzentrum eingesetzt. Diese leitet Hubert Mikl, Generalsekretär des Volksgruppenzentrums, der derzeit mit den Volksgruppenvertretern konkrete Konzepte für die Schüler- und Lehrerrekrutierung und den genauen Lehrplan erarbeitet.

Bis Ende September soll ein Arbeitspapier fertiggestellt werden, das konkrete Vorschläge zur personellen Besetzung der Lehrerposten und Vorschläge für den Lehrplan enthalten wird. Dieses Arbeitspapier wird Diskussionsgrundlage für die Verhandlungen mit dem Unterrichtsministerium und dem Wiener Stadtschulrat sein.

Den Großteil der Organisationsstruktur des Internationalen Volksgruppengymnasiums kann Hubert Mikl aber schon jetzt präsentieren. Diese neue Schule soll den gleichen

Lehrplan wie jedes andere Bundesgymnasium haben. Einziger Unterschied: Der Lehrer muß in beiden Unterrichtssprachen „kompetent” sein, denn unterrichtet wird abwechselnd in Deutsch und in der Minderheitensprache. Das erklärte Ziel: Nach der Unterstufe sollen die Schüler in beiden Sprachen perfekt sein.

Türken am Vormarsch

Einer kleinen Sensation kommt die Miteinbeziehung türkischer Zuwanderervereine an den Planungsarbeiten für das mehrsprachige Gymnasium gleich. Hatten doch die Vereine der autochthonen, schon Jahrhunderte in Österreich lebenden Volksgruppen, eine Zusammenarbeit - unter Hinweis auf die unterschiedlichen Probleme - mit den erst in den letzten Jahrzehnten zugewanderten Menschen bisher abgelehnt.

Das Projekt zeigt jedoch, so Hubert Mikl, wie man - bei allen Unterschieden - mit neuen Minderheiten umgehen, und eine Verbindung zwischen „alten” und „neuen” Volksgruppen schaffen könne: „Man muß eine Lösung anbieten, wie man Menschen in Österreich integrieren kann, ohne sie zwangsweise der Assimilierung auszusetzen.” Gleicher Meinung ist, Serdar Erdost, Mitarbeiter der ORF-Minderheitenredaktion und Vertreter der türkischen Zuwanderervereine in der Arbeitsgruppe. Er sieht ein gemeinsames, mehrsprachiges Gymnasium in Wien als „große Chance” und „Teil eines Prozesses, in dem sich Interkul-turalität praktisch vollzieht und nicht nur Lippenbekenntnis bleibt.” Dies sei für eine Volksgruppe umso wichtiger, die oft, durch den fehlenden sozialen Status, noch „Minderwertigkeitskomplexe” habe.

Tschechen am Rückzug

Dieses Manko zu überwinden, dürfte für viele türkische Eltern erstrebenswert sein, denn eines ist jetzt schon deutlich geworden: An aufnahmewilligen türkischen Kindern wird es der Schule nicht fehlen.

Schwieriger sieht es da schon beim türkischsprachigen Lehrpersonal aus, doch hoffen die Volksgruppenvertreter bis zur Realisierung des Projektes genügend kompetente Lehrkräfte zur Verfügung zu haben. Umgekehrt verhält es sich bei den autochthonen, alteingesessenen Minderheiten: Sie fürchten mit der Klassenschülermin-destzahl von 20 Schülern je Klasse Schwierigkeiten zu bekommen. Daher auch der einhellige Wunsch der kroatischen, slowakischen, tschechischen und ungarischen Minderheit: Man möge die Mindestzahl senken, mindestens 15 Schülerinnen und Schüler wären realistisch.

Ein weiteres spezifisches Problem haben die Tschechen in der Bundeshauptstadt: Sie fürchten um ihr traditionsreiches Wiener Schulwesen. Hunderttausende Tschechen lebten noch in der Zwischenkriegszeit in der Donaumetropole, heute bekennen sich in Wien nur noch rund 8.500 Menschen zur tschechischen Umgangssprache.

Und auch von den über ein Dutzend Wiener tschechischen Schulen blieb alleine die Komensky-Schule am Sebastianplatz. Diese letzte, von finanziellen Schwierigkeiten gebeutelte Schulinstitution möchten die Wiener Tschechen erhalten. Ein Kompromiß zeichnet sich ab. Die Unterstufe der tschechischen Klasse könnte in der Komensky-Schule geführt werden.

Standortfrage ungeklärt

Neben dem Schulstandort - er soll möglichst zentral sein - ist auch die Frage der Finanzierung noch ungeklärt. Im Österreichischen Volksgruppenzentrum gibt man sich optimistisch: Kinder zu unterrichten kostet Geld, ob sie nun in einem rein deutschsprachigen, oder in einem anderen Gymnasium unterrichtet werden, wird argumentiert. Und schließlich seien der Wiener Stadtschulrat und das Unterrichtsministerium über die Pläne und Vorarbeiten des Volksgruppenzentrums informiert; beide Institutionen hätten grundsätzlich ihre Zustimmung erkennen lassen. Stadtschulrat und Ministerium sollen, so Karel Smolle, auch zu den weiteren Arbeitssitzungen beigezogen werden.

Die Chancen stehen also nicht schlecht, daß Wien ein mehrsprachiges Gymnasium bekommt. Zweifellos hätte eine solche Einrichtung Beispielwirkung:

Nicht nur für ein besseres Zusammenleben zwischen alten und neuen Minderheiten, sondern auch mit der Mehrheitsbevölkerung. Die Abgänger dieser Schule wären auch Botschafter Österreichs in einem nach mehr Zusammenarbeit strebenden Europa und Nutznießer einer, wie Karel Smolle es betont, „sinnvollen Volksgruppenintegration”.

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