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Mein Österreich

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Wer kennt die Namen? Sie starben im Schlamm der Schlachtfelder, in den Gaskammern von Auschwitz, unter den Trümmern ihrer brennenden Häuser, am Galgen, auf der Richtbank, sie verhungerten, verbluteten, verfielen dem Wahnsinn. Von ihnen waren wir gekommen und doch niemals losgekommen. Das Uberleben gab uns Pflichten auf; es galt, die unterbliebenen Taten der Verstorbenen zu Ende zu führen, ihre Träume weiterzuträumen. Wir waren, ohne unser Zutun, zu Vollstreckern unzähliger Testamente geworden. Der Geist der Toten, der über Europa schwebte, hatte sich in unseren eigenen Geist verwandelt. Darin lag die Quelle unserer bauwütigen, nach Gerechtigkeit dürstenden Vitalität.

Wo sie zurückgedrängt wurde, reglementiert, diktatorisch in schmale zubetonierte Kanäle geleitet, wie in Ungarn in den Jahren 1949 bis 1956, brach sie mit elementarer Kraft empor. Die Kurskorrektur des Jahres 1953 nutzte wenig; zu heftig war der Schmerz, das Notwendige nicht tun zu können, zu stark die Sehnsucht nach Verwirklichung der Vision. Elf Jahre nach Kriegsschluß kam es zur Revolution, zum Aufstand, zur nationalen Erhebung.

Wir, damals, in Ungarn, hellwach, zu einem feurigen Licht der Bewußtheit noch weiter erwachend, suchten in der Welt der politischen Wirklichkeit nach festem Halt: nach einem guten Beispiel, einem soliden Stück Realität, einer vorbildhaften und nachlebbaren Lösung. Wir dachten viel, wußten wenig. Das Modell der Blockfreiheit, der Arbeiterselbstverwaltung im Land der Südslawen zog den Blick an. Erregender, exemplarischer, der Sehnsucht entsprechender wirkten auf uns Begriff und Wirklichkeit der österreichischen Neutralität.

Ein starkes Gefühl der Verbundenheit kam dazu. Es strahlte über die Generationen hinweg. Obwohl wir uns im Sinne eines heftigen Patriotismus veranlaßt sahen, uns als frühere Opfer des Wiener Absolutismus zu empfinden, obwohl wir Wien nie gesehen, Österreichs Wesen nie begriffen hatten, war für uns die gleichsam magnetische Kraft, die Budapest und Wien zusammenhielt, Gewißheit. Wenn Österreich neutral war, konnte es Ungarn ebenfalls sein.

Das Land, das ich vor bald dreißig Jahren nach einem Fußmarsch endlich betrat, war mir nur durch seine Dichter und durch vage Gesprächsfetzen bekannt. Ich befand mich dennoch nicht in der Fremde. Die Gemordeten waren auch hier zugegen. Es galt, ihren Träumen die Treue zu halten, doch waren ihre Träume österreichisch. So verwandelte sich nach und nach Österreich — für mein Empfinden — in mein Österreich.

Dieses mein Österreich steckt heute in der Krise, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch. Das griechische Wort Krisis bedeutet Urteü, Entscheidung. Wir, neue und alte Österreicher, sind aufgerufen, über uns selbst zu urteilen, über Zukünftiges zu entscheiden.

Wir sind katholisch, aber nicht zu sehr. Wir sind für den Sozialismus, allerdings unter der Bedingung, daß er nicht eintritt. Wir sind für die Demokratie, wenn sie schlampig gehandhabt wird, haben aber nichts gegen die Obrigkeit, solange sie sich nicht allzu ernst nimmt. Im Augenblick befinden wir uns in der Trägheit des Wohlstands. Wir machen Geschichten, aber keine Geschichte. Solange man uns im schmucken Eigenheim hausen, in grünen Wäldern umherziehen, im Auto herumfahren läßt, sind wir des Denkens enthoben. Und wenn der Himmel nicht voller Geigen, sondern voller Nuklearbomben hängt, blicken wir eben nicht empor, sondern beschauen den eigenen Nabel.

So war es nicht, damals, 1956, so muß es auch in der Zukunft nicht sein. Die Demokratie ist stark genug, sich selbst nach dem Beispiel des Barons Münchhausen am Schopf zu packen und aus dem Morast zu ziehen. Im Föderalismus stecken ungenützte Möglichkeiten der maßvollen Selbstbehauptung und des täglich herzustellenden nationalen Ausgleichs. Selbst die weit ausholende, oft verblendet geführte Debatte über die Zeit des Nationalsozialismus könnte nützlich sein, soferne sie nicht absackt in die geistige Niederung des Verschweigens und der Gefühlsduselei: Sie liefert uns Lehrstoff für den politischen Alltag.

Mein Österreich könnte so sein, wie es uns, Neuankömmlingen, vor dreißig Jahren erschienen ist: eine Republik der nüchternen Entscheidungen, ein geistiger Mittelpunkt des Donauraumes, ein Gemeinwesen im Aufbruch ins 21. Jahrhundert, ein Hort jener bürgerlichen Freiheit, die die Zivilcourage ermutigt, die Cliquen und Klüngel bändigt, die Korrupten nicht nur vor Gericht stellt, sondern auch moralisch verurteilt, die Mächtigen mäßigt und die Kleinen emporhebt.

Die Stimmen der Toten des letzten großen Mordens sind nicht verstummt, ihre Leben immer noch nicht zu Ende gelebt, ihre Träume nicht zu Ende geträumt. Wir haben aber verlernt, ihre Sprache zu verstehen, an ihre Visionen, die wir in seltenen Minuten als eigene Träume erkennen, mit Festigkeit zu glauben.

Kann dieser Glaube erwachen?

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