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Meine Lebensjahrzehnte

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1935 An der Hand geführt steige ich die Stiege hinab. Der Garten liegt tiefer als die Straße. Unten leben Leute, die Hühner und Kaninchen haben. Leute, die das Licht abdrehen, wenn sie kurz das Zimmer verlassen. Von sozialen, politischen und anderen aktuellen Geschehen weiß ich noch nichts, für mich gibt es bloß die Welt der Kinder, der ich angehöre, und die Welt der Erwachsenen, der ich nicht traue, denn die Erwachsenen wollen mich täuschen. Bereitwillig erklären sie mir, wie Kobol-

de und Zwerge aussehen, die es angeblich nicht gibt, aber sie flüchten sich in Ausreden, wenn ich wissen will, warum das Wasser naß ist, wo sich heute der gestrige Tag befindet und wo ich gewesen bin, bevor ich da war. Ich muß früher irgendwo gewesen sein, sonst hätte meine Mutter nicht gesagt: „Du bist noch nicht da gewesen, als die Großmutter starb und für immer von uns ging.“ Wohin ging die Großmutter? Wie stirbt man? Werde auch ich sterben?

Auf dem Abhang Ribisel- und Stachelbeersträucher. Ein Hund, groß wie ich, läuft auf mich zu. Knurren, Bellen. Braune Augen fixieren mich. Er springt hin und her, er kommt näher. Ich habe Angst. Die Erwachsenen achten nicht auf meine bedrohliche Lage. Zur Begrüßung schütteln sie einander Hände. Das Händeschütteln finde ich komisch. Eine Frau umarmt mich. Sie sagt „mein Bruder“ zu meinem Vater. Das

höre ich das erste Mal. Mein Vater gehört doch mir! Und wenn er auch ein Bruder sein soll, dann gehört auch der Bruder mir, so wie mein Ball mir gehört. Und wenn jemand behaupten würde, mein Ball sei zum Beispiel seine Eisenbahn, dann wäre das nicht richtig. Zwar könnte sich mein Ball leicht in eine Eisenbahn verwandeln, aber die Ball-Eisenbahn gehörte dann auch mir.

Die Pfingstrosen blühen weiß und rot. Ich bekomme eine Blüte und halte sie in der Hand. Ob die Blätter nachgeben, wenn ich an ihnen ziehe? Langsam zupfe ich ein Pfingstrosenblatt nach dem anderen aus dem Blütenkopf. Mit dem Stengel schlage ich gegen den Boden. Die Frau, deren Nägel rot sind wie das Blut, das aus meinem Finger kam, als ich mich unlängst geschnitten habe, meint, ich hätte kein Gefühl für Schönheit. Was ist Schönheit? Jemand zieht das Grammophon auf. Ich weiß, daß im Schalltrichter kein singender Mann versteckt ist, wie man mich glauben machen will. Warum sagen mir die Großen nicht die Wahrheit? Ich will wissen, wie das Grammophon funktioniert.

Mein Lieblingsplatz ist auf der Schaukel, aber nur dann, wenn ich mich ohne fremde Hilfe noch schwingen kann. Die Erwachsenen sehen das nicht gern. Sie wollen mich stoßen und auffangen. Ich will mich aber frei bewegen. Nach der Jause sitzen alle in Korbsesseln und spielen Karten. Zeitweise wird laut geredet.

zeitweise ist es still, daß ich den knallenden Aufschlag der Karten auf den Tisch höre. Neben dem Hasenstall sind Gartengeräte und Gerumpel. Hühner laufen herum, manchmal scharren sie und pik-ken Regenwürmer aus dem Boden. Die Kaninchen beachten mich nicht, wenn ich mit ihnen rede. Rhythmisch atmend sitzen sie im Stall. Mit einem langen Strohhalm, den ich durch das Maschen-■gitter geschoben habe, stupse ich leicht gegen das weiße Fell. Das Tier rückt ein wenig zur Seite. Soll ich wie ein Hund bellen, damit du mich wahrnimmst?

Vor dem Haus ist der Boden aus Beton. Darauf zeichne ich mit ei* nem Ziegelsplitter, den ich neben dem Gerumpel gefunden habe. Der Ziegel ist weich wie Kreide, und je mehr ich aufdrücke, desto deutlicher sind seine rötlichorangen Spuren. Zeichnen ist für mich physischer Genuß. Ich ziehe lange Striche, Wellen und Kreise. Kreise zu schließen ist schwer. Dabei höre ich das Gespräch der Großen:

„Wenn das so weitergeht, dann haben wir bald wieder Krieg.“

„Was fällt dir ein! Es wird keinen Krieg geben. Wir brauchen nur ein bißchen mehr Ordnung und das ist alles.“

Einer der Kartenspieler geht auf mich zu.

„Na, was hast du Schönes gezeichnet, mein liebes Kind?“ Sag mir, was Krieg ist, denke ich, und werfe schweigend den Ziegelsplitter weg.

IQ {\ \ Ich gehe zu dem S I J Haus, in dem jene Leute wohnen, die das Licht abdrehen, selbst wenn sie nur kurz das Zimmer verlassen. Ich steige die Stiege hinab. Man führt mich nicht mehr an der Hand. Links und rechts grüne Ribisel- und Stachelbeerstauden. Eine Amsel singt. Das Haus liegt in Trümmern. Der Schalltrichter des Grammophons eingeklemmt zwischen Mauerbrocken und Schutt. Ein Bett, teils von der eingestürzten Wand verschüttet, steht unter freiem Himmel. Ein blutiges Tuch in der Nähe der Schaukel. Die Pfingstrosen blühen noch nicht weiß und rot. Im Gras liegt ein Körper. Ich nehme den geliebten Kopf in meine Hände. Als ich loslasse, fällt er zurück. Das Gesicht gelblich fahl. Und wenn ich Fragen stelle, antwortet nicht der vertraute Mund. Aus der klaffenden Wunde am Hals kommt kein rotes Blut mehr. Schwarz stockt es unter der Haut und auf dem Kleid. Steif hängen die leblosen Arme, wenn man die Tote in einen Wäschetrog legt, der den Sarg ersetzt.

„Sag doch was! Sag doch was! Sprich! Bist du wirklich tot? Das bist nicht du! Dieser Körper sieht zwar aus — wie du, aber du bist es nicht! Wo bist du jetzt? Wo?“

Winselnd, auf drei Beinen hüpfend kommt der verletzte Hund hinter den Trümmern hervor. Jener Hund, der einst groß war wie ich. Das Tier schleppt die zerquetschte Pfote hinter sich her, es

hinterläßt blutige Spuren. Verstört schaut es mich an, es hebt den Kopf und heult, aber es kommt nicht näher.

- Wer hat das getan? Wie sieht er aus? Vielleicht hat er blaue Augen und ein lustiges Grübchen in der Wange, wenn er lacht.

1 O Q C Auf der Straße L J O J fließender Verkehr. Die Tafel läßt wissen, daß hier eine neu errichtete Wohnhausanlage steht. Die Häuser haben sechs Stockwerke. Reihen von parkenden Autos säumen die Häuserblocks. Früher wohnten hier Leute, die Hühner und Kaninchen hatten. In Gedanken steige ich die Stiege hinab, sehe die Schaukel, die Pfingstrosen, die Kartenspieler, den Hund. Noch immer weiß ich nicht, was Schönheit ist. Ein Motor heult auf, reißt mich aus meinen Gedanken. Das Quietschen der Bremsen. Die Ampel zeigt rot. Ein Mann, das Mikrophon in der Hand, spricht mich an:

„Grüß Gott! Entschuldigen Sie bitte, dies ist eine Umfrage des Internationalen Instituts für Meinungsforschung. Was sagen Sie zum Wettrüsten der beiden Großmächte? Halten Sie einen nuklearen Weltkrieg für vermeidbar? Glauben Sie, daß das Gleichgewicht des atomaren Wettrüstens der Großmächte für den Weltfrieden von Bedeutung ist?“

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