6996999-1987_12_22.jpg
Digital In Arbeit

Meine Wiener Heimatliebe

Werbung
Werbung
Werbung

Lissabon hat ein angenehmeres Klima, aber meine Heimat • ist Wien. Die Luft in Oslo ist gesünder, aber meine Heimat ist Wien. Das Essen in Paris ist interessanter, aber Wien ist meine Heimat. Die Menschen in Kopenhagen sind freundlicher, aber ich bin halt Wiener. In Berlin kann ich problemloser parken, aber Wien bleibt Wien.

Schließlich bin ich in Wien geboren, wenn ich auch zugeben muß, daß ich damals noch jung war und auf meinen Geburtsort keinen Einfluß hatte; trotzdem, meine ersten Eindrücke waren Wiener Eindrücke: der strenge Vater, die eingeschüchterte Mutter, die ungerechten Lehrer, die boshaften Schulkollegen, die Unsicherheit, die Prügel, die Enttäuschungen — das alles habe ich Wien zu verdanken. Es hat natürlich auch positive Eindrücke in meiner Kindheit gegeben — lassen Sie mich nachdenken ...

Warum ist Wien meine Heimat? Nun, ich identifiziere mich mit dem Wiener Charakter, der zwar nicht sehr positiv zu beurteilen ist, aber dafür kann ich mich auf seine negativen Aspekte verlassen. Jeder Wiener kennt den typischen Wiener Charakter, denn er kennt seinen eigenen. Schwamm drüber! Wien ist eine schöne Stadt, vielleicht nicht ganz so schön wie Venedig oder Honolulu, aber trotzdem eine schöne Stadt, auf die ich stolz sein kann, so wie ein Frankfurter auf Frankfurt stolz ist, obwohl er dazu nicht die mindeste Ursache hat.

Ferner kann ich einem Wiener Beamten besser erklären, was ich von ihm brauche, als ich das beispielsweise bei einem Stockholmer Beamten könnte. Der Wiener Beamte spricht meine Sprache. Ein Stockholmer Beamter würde mir kein Wort glauben, da ich ja nicht Schwedisch kann. Hingegen glaubt mir der Wiener Beamte nicht, weil ich Wienerisch kann. Das ist ein großer Unterschied. Der schwedische Beamte glaubt mir nicht, weil ich Ausländer bin, und der Wiener Beamte glaubt mir nicht, weil ich Wiener bin, und zwar mit Recht.

Jeder Mensch hat eine Heimat, aber die Heimat mancher Menschen ist furchtbar. Was macht ein Mensch, dessen Heimat Gelsenkirchen oder Liverpool ist? Ohne Zweifel liebt er Gelsenkirchen oder Liverpool ebenso, wie ich Wien liebe. Das kann man sich kaum vorstellen, aber man kann sich sowieso nicht vorstellen, eine andere Heimat zu lieben als die eigene. Der Sinn jeder Heimat ist es, daß man sie liebt, egal wie scheußlich sie ist.

Es ist allerdings so, daß der Begriff Heimat meistens mit ländlichen Gegenden verbunden ist. Auch wenn ich an meine Heimat Wien denke, dann denke ich eher an den Blick vom Leopoldsberg als an die Ottakringer Brauerei. Wenn mir dann jemand sagt, daß der Blick von der Zugspitze noch viel schöner ist als der vom Leopoldsberg, werde ich böse. Denn Heimat bedeutet auch Trotz.

Eigentlich hat man eine Heimat nur deshalb, damit man etwas zu verteidigen hat. Wer nichts zu verteidigen hat, ist heimatlos. Ich wäre bereit, Wien nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu verteidigen, allerdings mit einigen Einschränkungen. Ich würde, zum Beispiel, gerne den Inhalt der Albertina verteidigen, aber nicht den Bunker in der Gumpen- dorfer Straße. Ich würde auch lieber Wien in der Biedermeierzeit verteidigen als Wien in der Nazizeit, überhaupt würde ich Wien lieber im vorigen Jahrhundert verteidigen, denn was sollte ich jetzt verteidigen? Die U-Bahn? Das Hilton? Den ORF?

Wenn man einmal eine Heimat hat, kann man sie nur schwer gegen eine andere Heimat eintauschen. Wenn ein Libanese Wien zu seiner neuen Heimat machen will, weil es ihm verständlicherweise in Beirut nicht mehr gefällt, wird er bei den Wienern auf wenig Gegenliebe stoßen. Schon gut, würden die Wiener sagen, jetzt gefällt dir deine Heimat nicht, weil dort geschossen wird, aber sowie wieder Ruhe einkehrt, wirst du deine Meinung ändern, und dann stehen wir da. Die Heimatliebe zeigt sich auch darin, daß man andere Leute davon ausschließt, vor allem solche, die weit weg wohnen.

Das gilt auch umgekehrt: Es gibt Wiener, die im Alter von zwei Jahren ausgewandert und nie wieder nach Wien zurückgekehrt sind. Aber für uns Wiener bleiben die ihr ganzes Leben lang Wiener, besonders wenn sie es zu etwas gebracht haben. So leicht entläßt man keinen Wiener aus seiner Liebe zur Heimat. Wahlwiener darf es gelegentlich geben. Wahlauslandswiener'auf keinen Fall.

Nur bei Juden machen die Wiener manchmal eine Ausnahme.

Wer lange im Ausland war und dann zurück in die Heimat kommt, müßte sie wiedererkennen dürfen, aber das ist in der heutigen Zeit nicht leicht. Die Wiener Bürgermeister können schließlich nicht nur wegen der Heimatverbundenheit der Wiener auf die Schnellbahn, das neue Allgemeine Krankenhaus, den Kü- niglberg oder den Umbau des Karlsplatzes verzichten. Heimat kann also auf keinen Fall das sein, was sie ist, denn sie ändert sich ja ununterbrochen. Heimat ist immer das, was sie war, weil man daran gewöhnt war. Heimat ist nichts als die gute alte Zeit.

Gäbe es die gute alte Zeit nicht, hätten wir überhaupt keine Heimat. Wir fühlen uns im modernen Wien wohl, weil wir die Tradition des alten Wiens pflegen, das wir Gott sei Dank überwunden haben.

Da es unsere eigentliche Heimat gar nicht mehr gibt, ist sie kostenlos. Jeder Wiener kriegt seine Heimat bei der Geburt geschenkt. Ein Wiener, der nach Amerika auswandert, muß sich bemühen, den Amerikanern täglich zu beweisen, daß er jetzt Amerikaner ist. Kein Wiener muß den anderen Wienern beweisen, daß er Wiener ist, ja, wie schon gesagt, er ist gar nicht in der Lage, ihnen zu beweisen, daß er keiner ist. Deswegen behandeln sie ihn ja so schlecht.

Die Heimat der Wiener liegt in der Illusion. Ihre tägliche Zerstörung ist ein Teil unserer Heimatliebe. Daher kann sich auch jeder Wiener seine geliebte Heimat so vorstellen wie er will. Einer stellt sich unter Heimat die Donau vor, der zweite den Grillparzer, der dritte den Grillparzer, wie er in der Donau ertrinkt.

In unserer Wiener Heimat gibt es keine Einsamkeit. In unserer Heimat wollen alle dasselbe: die Heimat. In der Heimat liegt unsere Solidarität, die man sonst nicht merkt. Alle Wiener, die sich gnadenlos bekämpfen, haben dieselbe Heimat. In allen Wienern schlägt das gleiche goldene Wiener Herz. Wenn sie es nur merken würden!

Leicht gekürzt aus dem Band„Ist Wien überflüssig?“, der demnächst im Verlag Ueber- reuter erscheint.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung