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Menetekel

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Der Tod des Nobelpreisträgers und Bürgerrechtskämpfers Andrej Sacharow wird in der gegenwärtigen bewegten politischen Situation nicht bloß als ein menschlich bedauerlicher Verlust und ein quasi natürliches Ereignis verstanden werden, sondern auch als ein weiteres ungünstiges Omen für die schon mit so viel Schwierigkeiten konfrontierte Politik Gorbatschows.

Auch Gorbatschow selbst wird den Ausfall dieses von ihm aus der Verbannung befreiten Mannes möglicherweise als einen weiteren Sargnagel für sich selbst empfinden. Denn obwohl Sacharow, was die Zielsetzung und das Tempo der Verwirklichung anbelangt, Gorbatschow kritisierte und zu mehr Beschleunigung antreiben wollte, war er doch ein Mitstreiter Gorbatschows, einer, dessen Mahnen und Drängen es Gorbatschow erlaubte, in der Mitte zu stehen, zwischen den Konservativen der Parteiführung und dem trägen Apparat auf der einen und den ungeduldigen Reformern ä la .Boris Jelzin auf der anderen Seite. In seinem Herzen steht der Mann, von dessen Schicksal in der Sowjetunion alles abhängt, Jelzin und Sacharow ungleich näher als den Bürokraten und Dogmatikern, die er aber als Machtfaktoren dementsprechend taktisch behandeln muß.

Was Sacharow und Gorbatschow verbindet, ist nicht nur das humanistische Ethos, das beide beseelt und das den Apparatschiks, die um ihre eigenen Vorteile bangen, denkbarfremd ist, sondern auch das historische Format, das beide inmitten eines Heers von Gnomen verkörpern. Man muß weit in der Geschichte zurückgehen, um eine Persönlichkeit wie Gorbatschow zu finden, die bereit ist, ein solches persönliches und politisches Risiko einzugehen und sich solchen Wirkungen, wie sie durch das Lostreten der Lawinen von Glasnost und Perestrojka ausgelöst worden sind, auszusetzen.

Losgetretene Lawinen begraben nämlich nicht selten auch den, der sie losgetreten hat, unter sich. Um im Bilde des winterlichen Schnees zu bleiben: Das aufgestaute Eis schmilzt unter der Frühjahrssonne dahin, so ähnlich wirken die Frühlingsstrahlen 'von Glasnost und Perestrojka auf die vereisten Strukturen der kommunistischen Länder, die nicht mehr unter einer Decke mit dem sowjetischen Väterchen Frost stecken, sondern sich ihr eigenes Bett einzurichten beginnen.

Doch wehe, wenn der Winter mit dem Verschwinden der Sonne, die sich zu früh und zu spät vorgewagt hat, wieder Einzug hält und sich der Ansturm des Frühjahrs zu lange an ihm bricht! Wir müssen nicht nur für den toten Sacharow, sondern noch mehr für den zum Glück lebenden Gorbatschow beten!

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