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Mensch, mach doch Kulturgeschichte!

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Anläßlich der 36. Sommertagung des Katholischen Akademikerverbandes Österreichs in Salzburg hielt der A utor ein weitgehend auf kulturhistorische Fragen konzentriertes Referat. An dieses schlössen sich einige praxisbezogene Bemerkungen an, die wir im Folgenden leicht gekürzt wiedergeben. Uber die Tagung „Erneuerung der Kultur - Aufgabe oder Abenteuer?" wird die FURCHE noch ausführlich berichten.

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Anläßlich der 36. Sommertagung des Katholischen Akademikerverbandes Österreichs in Salzburg hielt der A utor ein weitgehend auf kulturhistorische Fragen konzentriertes Referat. An dieses schlössen sich einige praxisbezogene Bemerkungen an, die wir im Folgenden leicht gekürzt wiedergeben. Uber die Tagung „Erneuerung der Kultur - Aufgabe oder Abenteuer?" wird die FURCHE noch ausführlich berichten.

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Ist es nun möglich, in kulturhistorische Prozesse einzugreifen? Wie weit ist Kultur machbar?

Wir können auf die Frage eine allgemeine und eine die jeweiligen Standorte berücksichtigende Antwort suchen. Unter Standorte verstehen wir hier den Platz einer Person in jenem Prozeß, der die Kultur formt, ja letztlich auch hervorbringt.

Es gibt drei Möglichkeiten, an diesem Prozeß teilzunehmen: als Teil des Publikums, als Träger zentraler Verantwortung und als Produzent unmittelbar kulturell wirksam werdender Werte. Die standortspezifische Antwort liegt an der Hand. Die Rollen des Zuschauers, des Mäzens und des Künstlers (um die Begriffe zu vereinfachen) in der Hervorbringung der Kultur sind unterschiedlich, wobei die Grenzen fließend sind, denn alle drei Kategorien gehören zum Publikum; der Zuschauer übt, wenn auch oft unbewußt, ein kollektives Mäzenatentum aus; der Mäzen gibt Impulse, die aber oft andere Folgen haben als erhofft oder berechnet; der Künstler beeinflußt den Mäzen, ohne es zu wollen, usw.

Die allgemeine Antwort aber lautet: Wir können kulturhistorische Prozesse in einem vorher berechenbaren Sinn meistens nicht beeinflussen, wir müssen aber gleichzeitig wissen, daß dieser Prozeß aus unseren Aktivitäten und Passivitäten besteht, also nichts „objektiv Seiendes", vom Schicksal Gewolltes ist, sondern daß seine Determiniertheit unserem Wesen entspringt. Um es noch einfacher zu sagen: Kultur ist nicht machbar, aber wir müssen so tun als wäre sie unserem Wollen offen. Denn in einem gewissen, freilich unüberschaubaren Zusammenhang macht sich unser Einfluß in jedem Fall tatsächlich bemerkbar.

Wir wollen die Rolle, die der Künstler im Formen des kulturhistorischen Prozesses spielt, nicht behandeln. Er ist ja sozusagen selbst die Kultur.

Der Mäzen geht davon aus, daß er -ob nun souveräner Fürst oder gewählter Volksvertreter - über jene Macht und auch über jenes Planungsvermögen verfügt, die ihn in die Lage versetzen, sowohl das Verhalten der Künstler wie das des Publikums bis zu einem gewissen Grade zu beeinflussen. Diese Überzeugung ist notwendig, aber trügerisch. Denn die künstlerischen Vorgänge, die durch den Mäzen hervorgerufen oder auch nur bestärkt werden, haben ihre eigene Dialektik. Das heißt: Dem einen Künstler tut die Förderung gut, dem anderen nicht. Oder: Die Förderung eines Künstlers oder einer Richtung kann eine Gegenbewegung hervorrufen, die die geförderte Kunstrichtung in kurzer Zeit überwindet. Ähnlich verhält es sich mit der Beeinflussung des Publikums. In der Schule vermittelte Inhalte sind ebenso geeignet, auf die Schüler einzuwirken als auch dazu, ihren Widerspruch herauszufordern.

Der Mäzen hat gar keine andere Wahl als sowohl als Kunstförderer als auch in der Rolle des Publikumförderers zweigleisig vorzugehen: Sich einerseits zur eigenen Willkür, anderseits zur gegebenen Realität der Gesellschaft zu bekennen. Ohne Willkür könnte er niemals Großes wagen; ohne Rücksicht auf die Pflege des allgemein Vorhandenen müßte er sich in einen Tyrannen verwandeln.

Wir sprechen hier von der Förderung des Publikums, als handelte es sich um

die natürlichste Sache der Welt. In Wirklichkeit hätte der Mäzen dem Publikum gegenüber keine schönere Verpflichtung als die eine: es in Ruhe zu lassen. Allerdings mußten in den vergangenen Jahrtausenden so viele Schübe der „Panem et circenses"-Politik hingenommen werden, daß wir einen Zustand, in dem das Publikum von den Machthabern weder bevormundet, noch unterhalten wird, uns zwar als Wünschbarkeit vorstellen können - ohne allerdings an einen solchen Zustand der fröhlichen Freiheit wirklich glauben zu können.

Was nun die Kunstförderung betrifft, ist die Frage zu stellen, ob diese nicht von ganz bestimmten Cliquen und Klüngeln ausgenützt werden könnte. Die Antwort lautet: Sie könnte nicht nur ausgenützt werden, sondern sie wird auch. Die Willkür des Mäzens, seine politischen Berechnungen, sein Snobismus, die Einseitigkeit seines Geschmackes, seine Angst vor der Verletzung tabuisierter Größen (oder seine Angst, als ein Verehrer tabuisierter Größen dazustehen - was nur die andere Seite derselben Medaille ist), aber auch seine Gutmütigkeit, seine Freundlichkeit den Künstlern gegenüber, seine vorurteilslose Großzügigkeit begünstigen die Cliquenwirtschaft. Sie ist nicht zu beseitigen. Allerdings bedeutet nicht jede Cliquenwirtschaft ein Unglück. Wenn der Mäzen das Glück hat, die richtige Clique zu fördern, kann er unter Umständen kulturhistorische Taten setzen. Als Beispiel diene die Förderung der Clique rund um Michelangelo durch Papst Julius II.

Es wäre freilich auch noch zum Lobe des Mäzens vieles zu sagen, zum Beispiel, daß er sich oft insgeheim selbst als künstlerisch tätiger Mensch empfindet, als ein Künstler, der zwar keine Kunstwerke, sondern gewissermaßen Künstler hervorbringt. Er ist derjenige, der sich im Kreise der in künstlerischen Dingen gleichgültigen Machthaber dem Vorwurf aussetzt, ein Phantast oder ein leichtfertiger Mensch zu sein, der mit der Macht nicht richtig umzugehen weiß, nämlich: rigoros; er ist es, der zu jenem seltenen Typus des Zuschauers oder Lesers gehört, der bereit ist, auf Grund eines künstlerischen Impulses aktiv zu werden, und zwar nicht nur in der Nachempfindung und Nachahmung, also sozusagen privat, sondern auch in der Rückwirkung auf die Künste selbst.

Dies nun wäre für das Publikum die intensivste Form, am kulturhistorischen Prozeß aktiv teilzunehmen. Es wird aber heute in seiner Lustentfaltung in dieser Richtung weitgehend behindert durch die Massenanfertigung von Kunst, wodurch die Grenze zwischen Kunst und Kunstgewerbe zwar nicht aufgehoben, aber verwischt und unkenntlich gemacht wird, sowie auch durch die Massenanfertigung von Meinungen über Kunst.

Der Unterschied zwischen Kunst und Kunstgewerbe ist uns allen eigentlich klar: Kunst entspringt einem Lebensbedürfnis, Kunstgewerbe dem Bedürfnis nach Ausschmückung. Kunst ist das Stück Fleisch, Kunstgewerbe der Teller. Kunst ist der vollzogene Mord oder der vollzogene Liebesakt, Kunstgewerbe ist das zur Dekoration gewordene Ergebnis des Spiels mit dem Schicksal. Kunst ist der Aufschrei, Kunstgewerbe die melodische Schilderung der Gründe, warum man aufgeschrien hätte und in welcher Form.

Die Massenanfertigung von Kunst ist eine schöne Leistung der vervielfältigenden Technik (Reproduktion, Schallplatte, Tonband, TV, Radio, usw.), unterbricht aber den unmittelbaren Kontakt zwischen dem Ereignis des künstlerischen Schöpfungsaktes und dem Ereignis der schöpferischen Aufnahme, Verarbeitung und geistiger Verwertung dieses Aktes. Hier zeigt sich, daß es in der Welt so etwas wie eine Balance der Werte gibt: das Quantum geht zur Last der Qualität. Der

Mensch, dem Kunst nur in vervielfer-tigter Form bekannt ist, weiß nicht mehr, was Kunst ist. In diesem Sinne hat ein Hersteller von Gartenzwergen oder ein Besucher von Beat-Konzerten von Kunst viel mehr Ahnung als der Beamte oder Angestellte, der seine Arbeit unter einer Reproduktion von Picassos „Clown" verrichtet, oder die Hausfrau, die sich zum Bügeln auf dem Grammophon eine Symphonie Beethovens vorspielt.

Genauso erheblich ist die Hemmung und Verklemmung in der Bildung eines eigenen Urteils über Kunst. Kunsturteile in Massenanfertigung werden täglich ins Haus geliefert, man hat X. Y. für einen Romancier ersten Ranges zu halten, während man sich scheuen wird, N. N. an seine Seite zu stellen. Kräfte der selbständigen Urteilsbildung bleiben verschnürt. Darunter leidet nicht nur die Vielfalt der Kunst, sondern auch der Zuschauer oder Leser: er befindet sich während seiner Beschäftigung mit Kunst im Schatten der Spezia-

listen, obwohl Kunst seine eigene Sache wäre. In Fragen der Kunst ist jedermann Spezialist! Wenn wir diesen Standpunkt verlassen, geben wir die Ganzheit der Kultur preis: ihre Existenz als lebendigen Organismus, dem wir in irgendeiner Form alle angehören.

Unsere Möglichkeit, am kulturhistorischen Prozeß mitzuwirken, endet dort, wo wir nicht mehr fähig sind, in uns das archetypische Bildmaterial mit traumhafter, instinktiver Selbstverständlichkeit zu mobilisieren, wobei es für die Wirksamkeit dieser Vitalität gleichgültig ist, ob sie den Kitsch stärkt oder das Geniale. Kultur könnte bis zu einem gewissen Grade machbar bleiben, solange wir uns im Status der Kultur befinden. Unsere Zivilisation tut viel, um diesen Status zu zerstören. Ich glaube, er ist letztlich unzerstörbar, denn er lebt in uns. Die Frage nach der Machbarkeit der Kultur ist also letztlich eine Frage nach der Funktionsfähigkeit unserer Phantasie, oder, in einem anderen Vokabular, nach der Bewegungsfreiheit der Seele.

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