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Mensch und Friede im Mittelpunkt

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Die Schutzlosigkeit des menschlichen Embryos und die globale nukleare Bedrohung sind Herausforderung genug für den christlich motivierten Politiker.

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Die Schutzlosigkeit des menschlichen Embryos und die globale nukleare Bedrohung sind Herausforderung genug für den christlich motivierten Politiker.

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Das zentrale Gebot, das Christus an uns richtet, ist das Gebot der Nächstenliebe. Wir sollen un-sern Nächsten lieben wie uns selbst. Für ein Feindbild ist da kein Raum.

Die These, daß die Politik sich in einem Freund-Feind-Verhältnis ausdrücke, ist unchristlich. Wir sind nicht gehindert, für unsere politische Uberzeugung kraftvoll zu kämpfen. Aber niemals dürfen wir den politischen Gegner verunglimpfen, und mögen seine Ansichten nach unserer Auffassung noch so falsch, ja ge-

fährlich sein. Immer müssen wir bedenken, daß nach christlicher Lehre jeder Mensch das Ebenbild Gottes ist.

Gilt das auch für den werdenden Menschen, den menschlichen Embryo in seiner Schutzlosigkeit? Die Zahl der bekannt gewordenen Abtreibungen übersteigt allein in der Bundesrepublik Deutschland 200.000 im Jahr. Läßt uns das gleichgültig?

Auch wissenschaftliche Experimente mit menschlichen Embryos und erst recht deren kommerzielle Verwendung berühren die Würde des Menschen. Der Christ sollte sich dagegen aussprechen.

Ebenso sollte er manche Formen der Zeugung von Menschen einer kritischen Prüfung unterziehen. Ich nenne als Stichworte: Befruchtung im Reagenzglas, Einpflanzung des befruchteten Eis in den Körper einer anderen Frau, Befruchtung weiblicher Eizellen mit dem Samen anonymer Samenspender, sodaß das Kind nicht weiß, wer sein Vater ist.

Das zweite christliche Gebot, mit dem wir uns ständig auseinandersetzen müssen, ist das Friedensgebot.

Geschichtlich gesehen war der Friedensgedanke ursprünglich eng mit der Gerechtigkeitsidee verknüpft. Nur ein gerechter Zustand verdiente nach dieser Auffassung den Namen Frieden. Damals wurde die Lehre vom gerechten Krieg entwickelt.

Aber angesichts der Gefährlichkeit moderner Kriege hat sich die Uberzeugung durchgesetzt, daß auch ein ungerechter Zustand nicht durch Krieg zwischen den Staaten beendet werden darf, selbst gegenüber legitimen Zielen gilt international das Verbot der Anwendung von Gewalt.

Aus dem Friedensangebot folgt — daß wir in unserem Gegner, sei es in der Innenpolitik, sei es in der

Außenpolitik, nicht den Feind sehen dürfen. Wir dürfen ihn nicht hassen, auch dann nicht, wenn er uns haßt. Rachegefühle dürfen wir in uns nicht aufkommen lassen.

Die Erziehung zum Haß gegen den Gegner, die in einigen Armeen betrieben wird, lehnen wir ab, weil sie die Beziehungen vergiftet. Aber sie gibt uns nicht das Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Aber was ist, wenn wir militärisch angegriffen, wenn wir mit Krieg überzogen werden? Dürfen wir uns dann unter Anwendung von Gewalt verteidigen oder müs-

sen wir den Angriff widerstandslos hinnehmen?

Immer wieder haben sich christliche Kirche und Gruppen zur völligen Gewaltlosigkeit bekannt. Wir respektieren ihre Entscheidung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt dem Wehrpflichtigen das Recht, aus Gewissensgründen den Wehr-

dienst zu verweigern. Als Christen billigen wir diese Bestimmung unserer Verfassung. Aber ist Wehrdienstverweigerung die für den Christen allein mögliche Entscheidung?

Verbietet der christliche Glaube uns, uns zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden? Ein solches Verbot besteht nicht. Die

Bergpredigt verbietet uns nach meiner Uberzeugung nicht, das Leben der uns Anvertrauten zu schützen. Es heißt nicht: Wenn einer deinen ältesten Sohn getötet hat, so biete ihm auch den jüngeren Sohn dar, damit der ihn gleichfalls töte.

Die Hinnahme von Terrorismus, der Hunderte, Tausende von Menschen ohne jeden Sinn umbringt und mit Drohung und Erpressung gegen die Uberlebenden arbeitet, wird uns nicht anbefohlen.

Aber gilt das alles auch noch gegenüber einer Bedrohung mit Kernwaffen? Darf der Westen einen nuklearen Angriff dadurch abzuhalten versuchen, daß er selbst ein nukleares Verteidigungspotential aufbaut mit der Folge, daß im Fall eines Kriegs das Leben auf der Erde ausgelöscht werden könnte?

Nach meiner Ansicht ist die Politik der gegenseitigen Vernichtungsunfähigkeit auf der Grundlage des christlichen Glaubens vertretbar, wenn wir davon überzeugt sein dürfen, daß sie die best-

mögliche, ja vielleicht zur Zeit noch die einzige Garantie für die Bewahrung des Friedens ist.

Die Doktrin der „dissuasion" — wie die Franzosen sagen — hat Europa seit über 40 Jahren den Frieden erhalten. Wo sonst auf der Welt kriegerische Konflikte ausgebrochen sind, besaßen die kriegführenden Parteien diese Fähigkeit zur gegenseitigen nuklearen Vernichtung nicht.

Es ist eine der wichtigsten Pflichten aller Politiker in Ost und West, dafür einzutreten, daß die nuklearen Waffen reduziert werden. Abrüstungsverhandlungen mit dem Ziel zunächst einer ausgewogenen Verminderung, später einer Abschaffung dieser Waffen im Rahmen einer ausgewogenen Gesamtregelung haben höchste Priorität.

Auszug aus einem Vortrag des ehemaligen Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland am 12. Dezember 1985 in der Österreich-Deutschen Kulturgesellschaft in Wien.

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